Sonntag, 14. April 2013

Kleine und große Reisen

Die Reise nach Hessen

Von den Vorbereitungen für die große Reise ist mit fast nichts mehr erinnerlich. Ich weiss noch, dass ich bei  der Abreise über die großen Räder der Lokomotive gestaunt habe.

Etliche Kurzreisen, wenn man es überhaupt Reisen nennen konnte, waren einprägsamer.

Jedes Mal im Frühling mussten die Bienen des Großvaters in die Heide. Heidehonig war eine spezialität, ein Markenzeichen. Zu diesem Zweck musste nächtens, wenn die Bienen schliefen, der Transport stattfinden und ein Pferdefuhrwerk für die Fahrt besorgt werden. Die Beziehungen, die Großvater als ehemaliger Kavallerist mit großen Kreis ehemaliger Kameraden hatte, waren bestimmt hilfreich um ein Fuhrwerk auszuleihen.
Großvater war auch ein Pferdefachmann, wann immer es in der Nachbarschaft um Pferde ging, mußte Großvater mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Pferde waren zu dieser zeit noch häufig im Verkehr anzutreffen. Der Kohlenhändler gegenüber hatte ein Pferdefuhrwerk, außerdem gab es noch bäuerliche Betriebe im Stadtgebiet, die voll auf Pferde angewiesen waren.
Oft bot durchreisendes Volk Pferde zum Verkauf an. Dann war Großvater gefragt. Unter den Steert und in die Nüstern hat er geguckt. Manchmal wurde mit diversen Mittelchen nachgeholfen, die Pferde je nach Temperament oder Verfassung etwas ruhiger oder lebendiger darzustellen.

Wenn es in die Heide ging, fuhren wir vorschriftsmäßig mit einer Petroleumlampe unter dem Wagen, als Rundumbeleuchtung. Ein unvergessliches nächtliches Erlebnis.
Im Laufe der Saison musste man dann öfter nach den Bienen sehen. Mit der Kleinbahn Wulsdorf-Farge reisten wir öfters zu den Bienen.

Fahrplan 1923 aus Verkehrshandbuch für das Unterwesergebiet


Die Reisen nach Hessen sorgte Wochen vorher für Gesprächsstoff. Großmutter sprach öfters von "Weckworscht" und "Woin".
Weck- eine Brötchenart, Worscht- eine Fleischwurst, auch warm oder eine geräucherte Rotwurst und
Woin- Apfelwein.

In Hessen bekam ich das alles aus eigener Fabrikation der Familie Jöckel.
In Norddeutschland gänzlich unbekannt der Schwartemagen, war hier eine Delikatesse.
In der Gegend war die Verbindung Metzgerei und Gastwirtschaft sehr verbreitet. Weckworscht und Woin gab es also oft in einer Gaststube, die an eine Metzgerei angeschlossen war, was für mich völlig neu war, da es diese Kombination in Norddeutschland nicht kannte.
Auch zum Abendbrot gab es Fleisch-und Rotwurst in handlichen Stücken.
Der Apfelwein war ein Produkt von Streuobstwiesen. Jetzt sah ich auch von wo jeden Herbst der große Obstkorb per Bahn angeliefert wurde.

Große Schilder am Eingang der Gastwirtschaft verrieten mir, dass es auch, außer der mir bekannten Biersorten Karlsburg und Victoria, noch Funkstädter Bier gab.
Der Apfelwein stand in einem Steinkrug (Bempel) und wurde nach Bedarf aus einem großen Fass im Keller abgefüllt. Die Aufgabe durfte ich Zeitweise erfüllen.
Wir besuchten auch Großvaters Schwester in Grünberg/Oberhessen. Die ebenfalls eine Metzgerei und Gastwirtschaft hatten.
Dort war ich bei einem Schweineschlachten dabei, das ich aber schon von zu Hause kannte. Großvater hatte soviel von der Schlachterei in seiner Familie mitbekommen, dass er in Bremerhaven ein Lizenz zum Schlachten bekommen hatte und die Art der hessischen Wurstbereitung hatte dort Liebhaber gefunden.

Natürlich hatte Großvater auch in der Heimat alte Kameraden, Kriegsteilnehmer wie er.
Die neue deutsche Wehrmacht war gegründet und die ersten Biwaks, die nächtlichen Heerlager der Soldaten wurden veranstaltet. Die Kameraden erfuhren, dass in Fulda eines statt finden sollte. Das musste man gesehen haben. Es war wert diese weite Anfahrt auf sich zu nehmen.

Auf dem nächlichen Biwakplatz leuchteten Feuer, die Gewehre waren zusammen gestellt und schweres Gerät war aufgefahren. Besucher waren willkommen und so konnten wir uns umsehen. Es war sehr interessant für die alten Frontsoldaten, die über den aufgeweichten Platz stapften und ich durfte dabei sein.
Nach genauer Inspektion gaben sie ihr Urteil ab: "Mit diesem Haufen kann man keinen Krieg führen." Denn überall im neuen Reich tauchte das Gerücht auf: "Hitler will Krieg".
Aus demografischen Gründen konnte man zu der Zeit eigentlich nicht damit rechnen. Die ersten Jahrgänge die ausreichend junge aktive Soldaten stellen konnten waren nach den schweren Verlusten des 1. Weltkriegs und der 1918 folgenden spanischen Grippe die Geburtsjahrgänge ab 1919, die jetzt aber noch nicht 18 Jahre waren.  Es waren dann die Jahrgänge die den Beförderungsstau auslösten und es zur Armee der Obergefreiten werden ließ, in gleicher weise traf es auch das Offizierkorps, man hatte viel zu alte Kompanieführer. Dito, die so genannte Majorsecke.

Hoch her ging es auch im nahen Dorfkrug in dem die Führungsclique der neuen Wehrmacht mit Dorfbewohnern und auch mit den alten Kameraden hitzige Debatten, eine Art Manöverkritik betrieben.

Was wohl die Versammlung über meinen Großvater, dem einzigen Uniformträger in der Runde dachten. Ohne Uniform ging es beim Großvater nicht und wenn es die Straßenbahner Uniform von Bremerhaven war. Eisenbahn und Post hatten Uniform, warum nicht auch die Straßenbahn. Diese allerdings mit Knöpfen in silber und glatt und ohne Adler oder sonstigem.
Großvater hatte speziell eine Ausgehuniform aus nachtblauen Tuch. Das Ärgerlichste für ihn war, dass Straßenbahner nicht, wie Postler und Bahner, den Beamtenstatus hatten.
Uniformern mussten es sein, noch besser wäre es gewesen einen Säbel zu tragen, wie der Polizist der bei uns um die Ecke wohnte und zum Dienst immer einen Säbel trug.

Großvater und ich




































- Die Seeoffiziere des NDL sollen in alter Zeit bei Kaiser Wilhelm das Tragen von Säbeln beantragt haben. Kaiser Wilhelm soll ja gesagt haben, aber die Säbel bitte nur aus Holz. Die letzten von der Großdeutschen Marine trugen zur Galauniform wieder einen Ehrendolch.

Es sind gewisse Erlebnisse, die sich als Kind einprägen, dazu gehörte auch diese Debatte und die Fische im Burggraben.
Damals war es ein friedliches Wunder, das im Burggraben des Schlosses von Büdingen Fische schwammen und keines der "Nordlichter" dort angelte. Als ich viel später noch einmal beruflich in der Gegend zu tun
hatte, wollte ich mich vergewissern, ob meine Kindheitserinnerung real war. Richtig es schwammen immer noch Fische im Graben und es waren keine Stinte wie wir sie im Norden angelten sondern Forellen.
Das Langzeitgedächtnis, wie von Dr. Eric Kandel, Nobelpreis 2000, Neurobiologie, beschrieben, funktionierte.

Großvater fuhr bald zurück. Die Bienen, das Federvieh und die Karnickel warteten. Ich blieb in der Fremde und sehnte mit viel Langeweile das Ferienende herbei.

Die Theorie von Dr. Kandel bezüglich Synapsenverknüpfungen und Erinnerungen und mein eigener Eindruck, bezüglich dieser Dinge, stimmen genau überein. Immer wenn ich gedeckten Apfelkuchen mit Sahne esse habe ich einen Dampfer auf dem Main vor Augen und in der Nase, hier habe ich ihn das erste Mal gegessen. Das sind die, wie Dr. Kandel beschreibt, unverbrüchlich geprägten Synapsen eines Zwölfjährigen.
Memories never die.

Eine weitere der bleibenden Erinnerungen ist bis heute, diese üppig blühenden Geranien an allen Fenstern.
Warum man als Kind die Schönheiten einer alten Stadt wie Büdingen nicht wahr, nur die Geranien geschmückten Fenster sind eingebrannt in mein Gedächtnis, wie ich sie von zu Hause nicht kannte.
Noch heute liebe ich rote Geranien.



Aktuell

Sehen so die Auswirkungen des Klimawandels aus?

Aus "Nimm's leicht!" von Loriot



Oder etwas zum Überdenken:

Aus "Im Sternzeichen des Esels" von Kurt Marti

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