Sonntag, 3. Januar 2016

GEFÄNGNISJAHRE



Noch zwanzig Kilometer mit dem Zug, dann war ich am Ziel. Ich kam ins Dieburger Gefängnis. 
Ich wurde vom höchsten Beamten persönlich empfangen. Er half mir beim Strohsack stopfen, was mir noch unbekannt war. Ich war der einzige unserer "Reisegesellschaft", der hier landete.
Nach der Einkleidung, ich trug jetzt Holz- , statt italienischer Schuhe, kam ich in einen Saal. Die anderen Insassen waren nicht wie üblich kahl geschoren. Es waren alles Handwerker: Tischler, Maurer, Zimmerleute und vieles mehr.

Heute weiss ich, dass 1938 aus dem Darmstädter Gefängnis Handwerker in die vorher vom Reichsarbeitsdienst genutzen Gebäude verlegt wurden. Sie richteten es her. Es wurde das Stammlager I. der Gefangenenlager Rodgau. (Siehe "Das Lager Rollwald" von Heidi Fogel). Die Insassen fertigten dann im Hof Baracken für das Lager Rollwald.

Man erwartete natürlich einen weiteren Handwerker. Wunderte sich dann, dass es ein Seemann war, auch nicht kahlgeschoren. Dass ich dort gelandet war, stellte sich noch als großes Glück heraus. Sie waren die Privilegierten im Knast. Sie hatten vieles, was andere Häftlinge nicht hatten, und was auch den Beamten im Zivilleben durch den Mangel fehlte.
Ein Mithäftling, der sah, wie ausgehungert ich war, langte auf seinen Spind und gab mir eine Schüssel Nudeln mit Milch, aus Milchpulver, die er dort für den Abend deponiert hatte. Eine Köstlichkeit für mich!
Die Wachmannschaft trug blaue oder grüne Uniformen. Es waren normale Justizbeamte. SS - Schergen gab es nicht.
Ich wurde kein Handwerker, wurde aber mit eingesetzt, um Spargelbeete für die Beamten anzulegen, oder Splitterbunker zu bauen. Es hätten auch Friedenszeiten sein können, wären nicht die Bomber der Allierten gewesen,die in grosser Höhe über uns weg flogen, und meine Arbeit auf "Komando".             

Auf "Kommando"
Ich musste, weil kein Handwerker, mit anderen Insassen des Gefängnisses auf "Kommando" gehen. Das waren Arbeiten ausserhalb, z. B. bei der Munitionsanstalt, der Luftwaffe, kurz "Muni". Morgens ging es mit dem Bus hin. Dann mussten wir den ganzen Tag Granaten (8,8) und Röhrenpulver aus Bunkern zur Produktionsstätte schaffen. Die Leitung hatten ein freundlicher Luftwaffenunteroffizier und ein nicht mehr kriegsverwendungsfähiger Luftwaffensoldat. Es war für die Umstände richtig gemütlich. Die Muni lag im Wald; die reinste Erholung! Ich glaube, keiner dachte ans "türmen". Wo wollte man im Krieg auch hin. Wir hatten es ja gut. Auch hier galt der Spruch :"Geniesse den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!" In der Granatenproduktion waren nur Frauen beschäftigt, "Im Dienste des Führers!" Manche schenkten schon mal ein Lächeln, oder eine Zigarette. Man war dankbar für jedes freundliche Wort, für jede nette Geste. Nur das Abladen unbrauchbarer Kaliber (UK), die von der Front zurück kamen, war unheimlich. Sie waren schon in den Kanonen gewesen und hatten nicht gezündet. Wir behandelten sie, wie rohe Eier. Es war eine sehr gefährliche Arbeit.
Beim Kommando Reichsbahn im Ausbesserungswerk in Darmstadt - Kranichstein (heute Museum) war Schwerarbeit angesagt.
Wir mussten Kohle für die Loks entladen, Loks bewässern und den Sott entfernen. Der wurde, soweit ich verstanden habe, von den Winzern der Region in den Weinbergen ausgestreut. Zündete man ihn an, glühte er vor sich und schützte die Reben vor Frost. (Vielleicht lacht jetzt jemand, der etwas davon versteht).
Am schwersten war der Gleisbau. Jede Schwelle, jede Schiene wurde einzeln mit bloßer Körperkraft verlegt. Standardsteine mussten mit schweren Hämmern ins Gleisbett ein gearbeitet werden (stopfen). Mit der Wasserwaage wurde nachgemessen. Bei zuviel Höhe wurden Steine auf die Schiene gelegt. Die Arbeit des Hammers übernahm dann der nächste Zug, der darüber rollte. Eine Weiche einzubauen, erforderte Spezialkenntnisse. Auch die Hemmschuhleger waren Spezialisten. Die Waggons wurden von einem Ablaufberg auf die Gleise ihrer Bestimmungsorte geleitet. Mit dem Hemmschuh wurden sie rechtzeitig vor Zugende abgebremst. Wurde zu früh gebremst, musste geschoben werden. Zu spätes Bremsen konnte gefährlich werden. Der Waggon knallte dann mit voller Wucht auf den nächsten. Bei Kartoffelladungen "passierte" uns das sonderbarer Weise öfter. Sofort waren hungernde Menschen da, und sammelten die herunter gefallenen Kartoffeln auf. Zum Ankuppeln stand man zwischen den Puffern. Sie schützten einen zwar, trotzdem war es ein unangehnemes Gefühl. Meine Kollegen am Hemmschuh waren französische Fremdarbeiter. Sie waren höflich und freundlich, aber Kontakt mit uns "Verbrechern" war eigentlich streng untersagt. Aber das nahm keiner so genau. Beim Frühstück saßen wir zusammen. Ein Butterbrot fiel immer mal für uns ab. Ich rauchte nicht mehr seit dem Danziger Knast. Aber von den anderen hörte ich :"Donne moi une Cigarette." Die Franzosen rauchten ein schwarzes Kraut. Wenn ich mich recht erinnere :"Caporal". Von ihnen hörte ich, dass sie nicht so recht an den Endsieg der Deutschen glaubten. Ich wusste von nichts. Mir war es auch Wurscht!
Aufregung machte sich breit,wenn es mal eine Sonderzuteilung gab. Tabak! Ich war Mangels Gelegenheit zum Nichtraucher geworden, aber als Tauschobjekt war er zu gebrauchen. Wir bekamen zwar für unsere Arbeit Geld gut geschrieben, konnten damit aber im Lager nichts kaufen. Auch unsere privelegierten Handwerker zeigten kein besonderes Interesse. Sie hatten ihre Quellen, zumal der Tabak nur aus den gehackten Blattrippen bestand. Beliebter war Priem (Kautabak).

Die Beschäftigungen waren vielfältig. Wir mussten Viehwaggons umrüsten für den Pferdetransport (Pferde bekamen es komfortabler), und für den Personenverkehr. Es kamen Bänke und ein Kanonenofen hinein. In die Schiebetür wurde ein vorgefertigtes Fenster, dass vom Boden bis zur Decke reichte, eingeklemmt. Aussen dran ein Schild: "40 Mann". Am Tender ein sinniger Spruch: Räder müssen rollen für den Sieg. Alles für den Endsieg.
"Gute Reise".

Eines Tages saß ein mir unbekannter Häftling zusammen gesunken auf einem Stuhl im Schlafsaal und weinte bitterlich. Ich sehe das Bild noch heute vor mir. Es hiess :"Er geht auf Transport, nach Dachau. Er wurde enttarnt : Ein Jude! Für so einen ist ein Arbeitslager wie Dieburg zu schade."
Es dauerte, bis ich aus den Gesprächen der Mithäftlinge heraus hörte, was das bedeutete. Ich war ja völlig ahnungslos, was in meinem Heimatland geschah.. Die meisten waren nicht sehr mitteilsam. Ich erfuhr immer nur Bruchstücke. Die "Moorsoldaten" aus den Lagern im Emsland und Ostfriesland schilderten schreckliche Erlebnisse. Oft sangen sie : "Und wir gehen mit dem Spaten ins Moor, ins Moor." Ein Kölner erzählte etwas von einer "Weißen Rose".
Es waren Männer aus allen Ecken des Reiches im Saal. "Guppi", war ein Ursachse. Er kam beim Bombengraben (Nachtangriff auf Mannheim) elend ums Leben. Eine Brandbombe (Flüssiger Phosphor) konnte nicht gelöscht werden. Es waren auch Österreicher inhaftiert. Jetzt hiessen sie auf Befehl eines Landsmannes aus Braunau
"Ostmärker".

Kasinochef
Für mich gab es ein neues Kommando. Ich musste die Leitung und Bedienung im Beamtenkasino übernehmen. Was besseres konnte mir nicht passieren. Nebenan die Küche, im Keller die Heizung. Der Heizer war ein Landsmann aus Kiel. Mein Tag war lang. Morgens um vier Uhr wurde ich geweckt. Aus diesem Grund musste ich aus dem Handwerkersaal in eine Einzelzelle umziehen.
Am Tag gab es oft Pausen zwischen den Mahlzeiten der Beamten. Ich spielte häufig Schach mit meinem neuen Freund im Heizungskeller. Ihm ging es gut. Er bekam Besuch von einer Beamtin aus einem nahe gelegenen Frauengefängnis. Ich sah sie oft, bei ihren Besuchen im Kasino, im Keller verschwinden.

Innerhalb der Gefängnismauern konnte ich mich frei bewegen. Jeden Tag, pünktlich um zwölf Uhr ging ich mit einem Tablett über den Hof zum Chef, dem Oberregierungsrat, zwecks Prüfung des Gefangenenessens. Er kostete ein wenig und befand es immer für gut.
Es gab Kohl- und Steckrübensuppe ohne sättigende Fettaugen. Immerhin, uns, als "normalen Verbrechern" - eigentlich Kollegen von Himmler, Göbbels und co. - ging es gut, im Gegensatz zu den armen Menschen in den Arbeits-, und Vernichtungslagern.
Um 15 Uhr bekam die Sekretärin vom Chef ein Kännchen Kaffee, aus Sicherheitsgründen von aussen durch ein vergittertes Fenster gereicht.
Die Küchenbrigade fürs Kasino bestand zur Gänze aus Elsässern. Es war ihnen verboten, Französisch zu sprechen. Trotzdem schnappte ich einiges an französischen Worten auf. Da sich die Gelegenheit bot, kam ich leider wieder ans Rauchen, aber auch in den Genuss mancher mir unbekannter Delikatesse. "Wenn das der Führer wüsste!" Oder auch: "Geniesse den Krieg.....!"
Der Küchenaufseher war ein uriger Bayer. Die Kommunikation war schwierig. Die Köche waren alles Leute vom Fach. Doch bei der mageren Lebensmittelauswahl half ihr ganzes Können nichts. Stand Gulasch auf der Karte, gab es pro Beamten 50 Gramm Fleisch. Das waren vier Würfelchen pro Portion, die dann auch genau abgezählt auf die Teller kamen. Und wie durch Zauberei war für die Küchenleute und mich, auch immer eine Portion dabei übrig.
Ich half oft, machte Kartoffelbrei, oder putzte Gemüse. Es machte mir Spaß und ich lernte viel Neues.
Der Bayer liess sich oft ein Steak (Ohne Gewichtsbegrenzung) servieren. Dafür liess er uns weitgehend in Ruhe.

Der Krug ging wieder einmal an mir vorüber.
"Der Führer braucht mehr Soldaten!" Ein Gerücht ging um im Gefängnis. Tausende saßen im Knast, statt an der Front das Vaterland zu verteidigen. Und richtig, eine Musterungskommision erschien. Es hiess, die Frontbewährungsbataillone müssten
aufgefüllt werden. Auf dem Appellplatz war grosse Musterung. Ärzte, Militärs und ca. 600 stramm stehende Nackte, es war ein skuriles Bild. Die meisten hofften, genommen zu werden. Sie freuten sich auf die "Freiheit".
Meine Musterung war kurz: Rückgratverkrümmung! Wusste ich gar nicht. Ich war enttäuscht, hätte auch gern die Freiheit erlebt. Später war ich wieder einmal meinem Schutzengel dankbar, oder hatten sie nur nicht ihren "Kasinoheinz" los werden wollen?
Einer, er hiess Graf, der für tauglich befundenen wurde, kam später wieder. Er erstattete Bericht. Die "Freiheit" begann in einer Kaserne in "Stetten am kalten Markt". Von den Soldaten "Stetten am kalten Arsch" genannt. Es gab eine kurze Ausbildung. Dann wurden sie zur Befreiung der griechischen Inseln eingesetzt. Es soll erhebliche Verluste gegeben haben.

Das Radio
Die Chronologie aller Ereignisse habe ich nicht mehr im Kopf. Die meisten Tage liefen ohne besondere Vorkommnisse nach immer gleichem Schema ab. Der 20. Juni 1944 brachte aber wieder Aufregung. Es sprach sich herum: "Attentat auf den Führer!"
Dann die Information: "Der Führer lebt!"
Wir hatten im Kasino ein Radio. Keinen Volksempfänger, "Göbbelsschnauze" genannt, sondern ein richtiges, mit grosser Skala, auf der noch Beromünster und Hilversum standen. Das Radio war ein Tor zur Aussenwelt. Morgens, oft schon ab vier Uhr, Stellte ich es an, und wartete auf das "bum bum" der BBC. Dann klopfte ich an die Bürowand des französischen Küchenchefs. Er und mein Freund der Heizer kamen, so oft es ging, wenn vom Soldatensender Calais die Ansage kam :"Nachrichten zur vollen Stunde!" Es wurden Listen mit vermissten, oder gefallenen deutschen Soldaten verlesen, und es gab Frontberichte, die sich ganz anders anhörten, als die der deutschen Wehrmacht. Dazwischen lief deutsche, aktuelle Musik. Man sollte glauben, es sei ein deutscher Sender.
Diese Sender zu hören, war streng verboten. Es drohten schwere Strafen, bis hin zur Todesstrafe. Aber unsere Neugier war grösser, als die Angst. Mit dem Näherkommen der Fronten, hörten wir auch die Freiheit näher kommen.
Angespannt achtete ich darauf, wenn die ersten Beamten zum Frühstück kamen. Schnell schaltete ich das Radio aus. Eines Tages war ich nicht schnell genug. Ich wollte ausschalten, aber ein Beamter sagte :"Lass´ doch laufen, die schöne Musik. Es war kurz vor den Nachrichten. Ich war wie versteinert, als die Meldung kam, dass Hitler seit Stalingrad 150 Generäle entlassen habe. Es ging ein Geraune durchs Kasino, dann Totenstille. Bis einer meinte :"So etwas sagt doch kein deutscher Sender." Mir schlotterten die Knie. Fragen schwirrten durch den Raum :"Wer hat den Apparat ein geschaltet? Wer war heute der erste hier?" Das und vieles mehr, wollten sie von mir wissen. Es schnürte mir die Kehle zu. Aber seltsam, auf mich als Täter kam keiner. Schutzengel? Noch tagelang gab es Untersuchungen auf höchster Ebene. Ich konnte keinen ersten Früstücksgast nennen, und auf mich kam man ja nicht. So verlief alles im Sande. Ich konnte aufatmen. Wir liessen trotzdem nicht von unserer Informationsquelle ab, stellten aber eine Wache auf, die uns Gefahr meldete.
An einer Nachricht der BBC kann ich heute ein Datum festmachen. Es war der 18.9.44. "Angriff auf Bremerhaven durch Lancaster-Bomber!" Dort wohnten doch meine Grosseltern! Telefonieren konnte ich nicht. So blieb ich Wochen lang bis zum nächsten Brief aus der Heimat in grosser Sorge. Ihnen war nichts passiert.


So verging die Zeit, und für mich meistens angenehm. Durch die Elsässer kam ich in den Genuss meines  ersten Zwiebelkuchens, sogar Federweisser fehlte nicht - Saures Zeug! -
In den langen Pausen las ich mich durch die ganze Lagerbibliothek. Nach dem Krieg stellte ich fest, das sehr viele Bücher darunter gewesen waren, die auf dem Index standen oder 1938 längst hätten verbrannt sein sollen. So "plätscherte" das Lagerleben dahin, und ich plätscherte mit. Erst lange nach dem Krieg trafen mich meine, damals unterdrückten, Erinnerungen voller Wucht.

Draussen
Ich erfuhr, dass der 10.2.1945 mein Entlassungstermin sein würde. Sicher war ich mir aber nicht, dass ich raus käme. Es gab so etwas wie "Überhaft". Entlassungen sollten erst nach dem Endsieg erfolgen.
Doch ich kam raus. Ein Beamter brachte mich zum Zug. Sie wollten wohl sicher sein, dass ich wirklich abfuhr.


Ich recherchiere seit den achtziger Jahren Fakten zu meiner Verurteilung und meiner Haftzeit. Schriftliche Nachforschungen bei Archiven und Instituten waren ergebnislos. Ich fuhr nach Dieburg in die heute noch existierende Haftanstalt. Dort im Archiv fanden wir die unten abgebildeten Karteikarten. (Habe leider nur eine schlechte Kopie). Es sind die einzigen Unterlagen, die belegen, dass ich während des Krieges existiert habe. Vielleicht auch, da ich weder in Bremerhaven, noch in Kiel gemeldet war. Mein "Wohnsitz" war an Bord gewesen.




In Dieburg erfuhr ich auch, dass kurz nach meiner Entlassung eine Bombe aufs Grundstück der gegenüberliegenden Kirche fiel. Es war ein Sonntag, und soll etliche Opfer gefordert haben.
Beim Einmarsch der US-Truppen Anfang März ergab sich, so wurde mir erzählt, folgender Vorfall. In der Annahme, das Gefängnis sei ein Todeslager, rammte ein Panzerführer das Tor ein. Das nutzten die Insassen zur Flucht. Man klärte die Amis auf, dass es sich um einfache Kriminelle, und nicht um Gegner der Naziregimes handelte.
Diese Information ist für mich nicht ganz eindeutig. Es saßen zu meiner Zeit dort doch auch etliche politische Gefangene mit Überhaft.

Heimfahrt
Als ich 1943 verhaftet worden war, war es in Danzig friedlich gewesen. Der Krieg, die Fronten waren weit weg. Jetzt, 1945, kam ich in ein Chaos. Vom Rhein hörte ich Kanonendonner. Es fehlte jede Ordnung. Ab Darmstadt wusste ich nicht weiter. Fahrpläne existierten nicht. Ich wollte nach Kiel. Kurs Nord, mehr wusste ich nicht. Ein Fronturlauberzug - Wer hatte jetzt noch Urlaub? - fuhr in die Richtung. Ein alter Oberst als Kommandant, erlaubte mir die Mitfahrt. Eine Fahrkarte hatte keine Bedeutung. Ein Seemann muss doch an die Küste, um am Endsieg teilzunehmen. Der Zug war knüppelvoll. Zwei von der Militärpolizei drängelten sich durch die Menge. Ich fiel sofort auf. Was machte ein junger gesunder Zivilist in diesen Zeiten hier? Sie brüllten mich an :"Soldbuch!" Hatte ich nicht, wußte auch nicht wo es sich befand. Und i n meinem Seefahrtsbuch war der letzte Stempel von 1943, vom Tag meiner zwangsweisen Abmusterung. Jetzt brüllten sie den neben mir Stehenden an :"Soldbuch!" Dann :"Sie haften mir für den Mann!" Mein Nachbar war bei der Marine gewesen, jetzt aber bei der Luftwaffe. Er beruhigte mich :"Das klärt sich alles auf." Die Gefahr, in der ich war, wurde mir erst lange später bewusst. Man hätte mich wegen angeblichen Desertierens sofort standrechtlich erschiessen können. Zu der Zeit waren alle nervös. Jetzt war ich zwei Stunden nach meiner Entlassung, schon wieder verhaftet worden.
Irgendwo zwischen Frankfurt und Gießen hielt der Zug. Was war los? Gefahr? Wir sahen die Eisenbahner weg laufen. Auch wir verliessen in aller Eile den Zug. 1000 Soldaten und ein Zivilist, der seinen Bewacher verloren hatte, lagen an einem schönen Frühlingstag im Wald in Deckung. Der Zug blies von Zeit zu Zeit überschüssigen Dampf ab. Wir lagen dort etwa eine Stunde.
Sie kamen im Tiefflug. Vielleicht zehn Lightnings, diese "Doppelrümpfigen". Ich konnte die Piloten sehen. Sie beschossen nicht den Zug mit Bordwaffen, wie man annehmen könnte, sondern schmissen Kilobomben auf uns im Wald. Ich lag an einem dicken Baum. Durch die Erschütterungen konnte mich kaum am Boden halten. Ich glaubte, Hasen vorbei flitzen zu sehen. Es waren Bombensplitter, die über den Waldboden sausten. Auf was für Ideen man in seiner Angst kommt?
Der Spuk war schnell vorbei. Von Opfern hörte man nichts. Die Eisenbahner tauchten wieder auf. Ich suchte meinen Bewacher. Jemand sagte :"Hau ab!" In meiner Naivität dachte ich :"Warum?" Ich hatte nichts zu verbergen.
Meiner Erinnerung nach erreichte der Zug Giessen. Ich konnte mit dem Oberst die Sache klären, und bekam mein Seefahrtsbuch zurück.
Auf die Verpflegung am Bahnhof, Suppe aus Trockengemüse, verzichtete ich. Ich war besseres gewöhnt.

WAS WIRD MIT MIR GESCHEHEN ?

Unsere Deutschlandreise war kostenlos und einigermaßen komfortabel, mit Platzkarten und Einzelabteilen. Andere "reisten" zu der Zeit in Viehwaggons. Wir waren ca. ein Dutzend Mann. Die Fenster waren verklebt, wir hatten keine Kenntnis, wohin die Reise ging. Wie immer, war mein Zielort mal wieder geheim. Ich wusste auch nicht, wie das Urteil gelautet hatte. Der Galgen konnte es nicht sein, Den hätte es auch vor Ort in Danzig gegeben.

Unser erster Halt war Berlin. Wir wurden an langer Kette ausgeladen. Es war wohltuend, mal wieder auf einen freundlichen Polizisten zu treffen. Wir warteten lange auf dem Polizeirevier. Als ich trotz geringer Nahrungsaufnahme ein menschliches Bedürfnis verspürte, durfte ich aufs Beamtenklo. Es war angenehm sauber, nach all der Kübelbenutzung. Auf dem Gang hatte ich Gelegenheit, mir ein Butterbrotpaket irgend eines Beamten anzueignen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Auf der Toilette würgte ich das Brot in Windeseile in mich hinein. Die Nacht verbrachten wir in einem Saal mit ca. hundert Leuten. Es gab dreistöckige Holzbetten ohne Matrazen und Decken.

Die nächste Station war Leipzig. Hier waren Entlausung und Duschen dran. Später einmal, sah ich, dass die Duschen genau so aussahen, wie die in den Konzentrationslagern. Ich hatte Glück gehabt. Es kam nur Wasser raus. Die Kleidung kam zur Desinfektion in einen Dampfdruckkessel. Leider gab ich auch meine eleganten italienischen Schuhe mit hinein. Sie vertrugen die feuchte Hitze nicht. Ich reiste von da an meinem Ziel auf Socken entgegen.

Dann ging es nach Hof. Dort erhielt jeder ein Viertel eines mir unbekannten kleinen Brotes. Danke!

Der nächste Tag, es war der 7. Juli 1943, ein sonniger Sonntag, sah uns aneinander gekettetes Dutzend auf dem Darmstädter Bahnhof. Wir, alle zur Winterzeit verhaftet, in dicken Klamotten, ungepflegt, ich ohne Schuhe, erregten Aufmerksamkeit. Aus einer Gruppe elaganter Damen hörten wir :"Sieh´ mal, da laden sie Russen aus. Die sehen ja gar nicht so schrecklich aus." Die Frau hatte wohl das Bild der Russen aus den Propagandafilmen der "Wochenschau" vor Augen.



ZWEI KOFFER UND DAS ENDE DER OSTSEEZEIT


Meine blöde Gutmütigkeit
Dunkle Wolken brauten sich, noch unsichtbar, über mir zusammen. Man kann durch Zufall, diesem grossen Weltbeweger, zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Ich stand an der Gangway und wie sich später herausstellte, zur falschen Zeit am falschen Ort.
Zwei Männer tauchten auf und stellten die nicht ungewöhnliche Frage :"Wann laufen Sie aus?" "Morgen!" "Wir fahren mit." In der Passagierfahrt eine alltägliche Angelegenheit. Sie wollten, auch dagegen liess sich nichts sagen, ihr Gepäck schon da lassen.
Am nächstenTag beim Auslaufen waren zwar die Koffer an Bord, doch die dazu gehörigen Passagiere fehlten. Das war ungewöhnlich. Was tun? Erst einmal die Koffer kontrollieren.
Sie enthielten nur gewöhnliche Kleidung. Ich wusste nicht, ob ich nicht eigenmächtig gehandelt hatte, und schob die Koffer erst einmal unter meine Koje. Zurück in Danzig tauchten die verhinderten Passagiere wieder auf. Sie hätten das Schiff verpasst und könnten auch die nächste Tour nicht buchen. Sie faselten etwas von Scheidung, und ob die Koffer noch an Bord bleiben könnten. Was blieb mir übrig. Nach der nächsten Tour waren die Beiden wieder da. Sie schienen ihre Reisepläne aufgegeben zu haben und legten auf den Kofferinhalt keinen Wert mehr. Ob die Klamotten in Riga nicht zu verkaufen wären, sie bräuchten Geld? In Riga liesse sich alles verkaufen Ich wollte es versuchen. Im Gegenzug sollten sie mir Seifenstein besorgen. Hans war gerade Vater geworden und nahm mir die im Koffer enthaltenen Babysachen ab. Ein Pelzmantel mit Motten war nicht mehr brauchbar. Den Rest wurde ich auch noch bei der Besatzung los. Es kamen nicht mehr als 20 Reichsmark dabei heraus.

Ledermäntel und schwarze Uniformen
Die beiden Gestalten tauchten nicht mehr auf, dafür aber zwei Ledermäntel. Sie nahmen mich mit. Ich glaube, mein alter Kapitän hätte die Verhaftung nicht zugelassen. Hatte ich zu Recht ein schlechtes Gewissen wegen des Seifensteins gehabt?
Ab hier reisst oft der Erinnerungsfilm. Vieles, das mir erst später verständlich wurde, erkannte ich unter der körperlichen und seelischen Belastung damals nicht. Kein Datum, kein Tag, keine Nacht, nur Unverständliches. Ich war wie aus dem Leben gerissen und verstand die Welt nicht mehr.
Es sind in meiner Erinnerung nur Nebensächlichkeiten hängen geblieben. Z.B., dass bei meiner Verhaftung im Radio die "Fünfte" von Beethoven angesagt wurde.
In einem Büro im Danziger Gericht stand ich den mir aus Pölitz bekannten, schwarzen Uniformen gegenüber. Jetzt waren sie aber nicht mehr nett. Warum ich? Alle handelten doch mit Seifenstein. Mir gingen verworrene Gedanken durch den Kopf - Hatte ich etwas zu tun mit "Stalingrad"? Mit einem Radaunemörder? Während in mir die Angst hoch kroch, drehten sich darum die Gepräche der "Schwarzen". Einer kam aus einer Gerichtsverhandlung in Sachen "Radaune" und schimpfte :"Wie kann es angehen, dass im vierten Kriegsjahr der Gerichtssaal noch voll fauler Leute sitzt. Und das alles mit Stalingrad. Ich hätte am liebsten eingeteilt : Ihr da hin, ihr dort hin, zwanzig Mann zu Schichau!" Später wusste ich, die SS hätte die Macht dazu gehabt.
Schichau war die grosse Werft von Danzig. Nach dem Krieg landete sie, wie viele Flüchtlinge in Bremerhaven. Von Stalingrad hörte ich hier zum ersten Mal. Es war die Zeit der deutschen Niederlage in Stalingrad.
Der sogenannte "Radaunemörder", wie spätere Recherchen ergaben, hatte ein Mädchen getötet und in die Radaune, einem Nebenfluss der Weichsel geworfen. Er wurde an dem Tag vom Sondergericht zum Tode verurteilt. Das war am 10. Februar 1943. So erfuhr ich das genaue Datum meiner Verhaftung. Die Verhandlung hatte im erwürdigen Gerichtssaal stattgefunden, der zum "NS - Sondergericht" für Mörder, Hochverräter, und andere Feinde des deutschen Volks, umfunktioniert worden war.
Ich wurde zusammen mit ca. zwanzig Mann in einem Gitterkäfig mit einem Auto nach Stutthof, einem Lager ausserhalb von Danzig transportiert. Mein Gefühl von Hilflosigkeit wuchs. Kam keine Hilfe vom Schiff?
Wir landeten in einer Baracke, überwiegend belegt mit Polen. An Mahlzeiten und Waschgelegenheiten fehlt mir die Erinnerung. Nach Tagen, ich weiss nicht wie vielen, ging es zurück nach Danzig ins Polizeigefängnis. Ich kam in eine Einmannzelle, die mit zwölf Mann belegt war. Morgens bekam man von Wanzen zerstochen, die Augen kaum auf.

Von den Verhören ist nicht viel hängen geblieben. An einen Anwalt kann ich mich nicht erinnern. Soviel ich begriff, ging es gar nicht um den Seifenstein, sondern um die beiden Koffer und ihre beiden Besitzer. Mir ist nicht bewusst, ob ich die Männer wieder gesehen habe. Ihre Namen habe ich nie erfahren. Die Verhöre wechselten zwischen SS und Kripo. Ein Kripomann rettete mich vor Prügeln durch die SS. Seine Worte :"Das ist kein Jude", hielt sie von Schlägen ab. Daraus schloss ich, das mindestens eine der beiden dubiosen Gestalten ein untergetauchter Jude sein musste. das meiste blieb für mich im Dunkeln. Von der Aussenwelt bekamen wir in unserem Verlies auch nichts mit. Die Niederlage in Stalingrad fiel in die Zeit.

In der Schiessstange
Durch Verlegung in das Untersuchungsgefängnis in Danzig, "Schiessstange" genannt, war ich den Wanzen und der SS entronnen. Entlausung, duschen, frische Anstaltskleidung. Ein Paradies - man wird bescheiden. Der Hunger blieb. Die Zellen waren kriegsbedingt überbelegt. Die Türen waren beschriftet, damit die verschiedenen Straftäter nicht mit Gleichgesinnten zusammen saßen: Dissidenten, Untertaucher, usw. Mir alles unbekannte Worte. Für mich stand "gewerbsmässiger Hehler" dran. Die Koffer samt Inhalt mussten geklaut gewesen sein. Saß ich jetzt wegen lächerlicher 20 Reichsmark, oder wegen der angeblichen Verbindung zu untergetauchten Juden hier? Ich hatte unnötigerweise die ganze Zeit während unseres Seifensteinhandels ein fürchterlich schlechtes Gewissen gehabt. Es war gar nicht strafbar.
     Es gab nicht nur deutsche Mithäftlinge. Zeitweilig hatte ich Gesellschaft von drei Holländern der "Wapen-SS". Sie waren auf Transfer zum Militärgefängnis Torgau. Was hatten die wohl ausgefressen?
                       
                             "Wir leben mit den Träumen von Gestern!"

Die Anklageschrift
Auf dem ersten Blatt war eine Aufstellung der zehn Kriegssonderparagrafen. Nach den Ausführungen der nächsten Seiten würde wohl kein Hund mehr ein Stück Brot von mir genommen haben. Unterschrift: Wolff.
Meine Mitinsassen sagten :"Das ist das Sondergericht. Das bedeutet das Todesurteil." Mich berührte das gar nicht. Es ist unglaublich, aber mein Denken war so eingeschränkt, dass ich den Sinn nicht erfassen konnte. Doch verstand ich jetzt die Diskussionen der anderen. Sie erhofften sich eine Anklage vom Amtsgericht. Um als normale Verbrecher und nicht als politische zu gelten, bezichtigten sie sich erfundener Straftaten, um nicht vors Sondergericht zu müssen.

Wir wurden zu "kriegswichtigen" Arbeiten heran gezogen. Vogelfedern nach Länge sortieren, wofür? Kartoffelschälen war ein Privileg. Man saß mit rund zwanzig Leuten zusammen und konnte reden. Aufsicht hatte ein polnischer Häftling. Weil zweisprachig, stand er im Verdacht, ein Spitzel der Obrigkeit zu sein. Ich hatte nichts zu verbergen. Die anderen flüsterten miteinander. Ausländer mussten deutsch sprechen. Von unserem Aufseher wurde als "Alfons" gesprochen. Ich dachte, es sei sein Name und sprach ihn damit an.
Überrascht war ich, als er böse reagierte. Man klärte mich auf. Was im deutschen ein "Lui" war, nämlich ein Zuhälter, war im polnischen "Alfons". Man lernt nie aus.
Ein Sonderauftrag war die Arbeit an der Kartoffelmiete. Eingeteilt wurden nur Leute von Alfons Gnaden. Man saß in der schon lange vermissten, ersten Frühlingssonne des Mais und entkeimte Kartoffeln. Keime, jahreszeitenbedingt, zehn Zentimeter und länger. Die Natur fordert ihr Recht. Zum schälen waren die Kartoffeln eigentlich schon viel zu schwammig. Abnehmer waren die Danziger Hotels. Wir waren immer hungrig, aber rohe Kartoffeln waren ungeniessbar. Wie kamen wir an Essbares? Täglich brachte ein Bäcker mit einem "Knacki" als Hilfe, eine Trage mit Brot an uns vorbei in den Vorratsraum. Der Duft von frischem Brot erhöhte unsere kriminelle Intelligenz. Der Weg des Brotes führte an einem Besenschrank vorbei. Er war nicht, wie alle anderen Türen im Gefängniss, verschlossen. Wir warteten, bis einer aus unserer Zelle hinten an der Trage war. Ich versteckte mich im Schrank und schnappte mir einen Laib Brot. Vor dem Bauch, unter der Jacke, schmuggelte ich die Beute in unsere Zelle. Drei Ausgehungerte machten sich darüber her. Zum Sattwerden reichte es nicht, aber für fürchterliche Bauchschmerzen. Wir saßen stöhnend und schwer atmend in den Ecken. Sägemehl ist schwer verdaulich.
So bin ich doch noch zum Dieb geworden, nur die Reihenfolge stimmte nicht: erst Knast, dann Dieb.

Das Urteil
Im tristen Gefängnishof, wo wir die Kartoffeln entkeimten, blühte ein weisser Flieder. Flieder gehörte schon immer und gehört heute noch zu meinem Geburtstag. Am 21. Mai 1943 fällte im ehrwürdigen Danziger Gerichtssaal, zwei Tage nach meinem Geburtstag, das Sondergericht das Urteil. Kein klarer Gedanke drang in mein Gehirn. Nur Bruchteile brannten sich unauslöschlich ein.
Der Saal war voller Zuhörer. Kommt gleich die Einteilung nach Schichauwerft?
Warum sprachen die soviel vom Mond?  Hatte der Mond geschienen? Wurde heimtückisch die Verdunklung ausgenutzt? Von Seifenstein war nicht die Rede. Sie wälzten Tabellen. Ob mit oder ohne Mond, der Strang wartete. Wie das Urteil genau ausfiel? Ich weiß es nicht. Die Blockade im Kopf war total. In einer Verhandlungspause, in einer Zelle, las ich einen Spruch, den ein Vorgänger in die Holzvertäfelung geritzt hatte :"Jehova wird die einst die Tränen von deinen Augen wischen." Ich wusste nicht, wer Jehova war. Ein Trost aber, dass es jemanden gab, der Tränen von den Augen wischte.

Eintrag ins Logbuch : Ende der Seereise 10. Februar 1943 

Sonntag, 1. November 2015

DANZIG - RIGA TEIL 2

Der Alkohol gehörte zum Krieg. Fast alle soffen. Das ausgiebige Feiern lenkte ab, vom
  Krieg und der vielen Arbeit. Wir waren immer todmüde. Und jede Woche klapperten wir die Häfen bis Riga ab. Auf Ausguck, auf dem Peildeck schlief ich im Stehen ein. Der II. weckte mich mit einer Pütz Wasser. Er hielt gerne sein Pausenschläfchen, auf der Flaggenkiste sitzend. "Ich will mit dem Dampfer mal ein Stück mitfahren," war sein Spruch. Es klappte nur bei ruhiger See. Wenn´s schaukelte, drohte er von der Kiste zu fallen. Jerzy und ich mussten den Kahn auf Kurs halten, und nicht zuviel versteuern. Der erste Blick des II. ging, wenn er seine Pause beendet hatte, achteraus. Wieviel haben die versteuert? Der konstante Kurs war doppelt wichtig, da oft, wegen der Angriffe, alle Leuchtfeuer gelöscht waren. Es war eine elende Schipperei. Es gab keine Kurspeilhilfe, um uns nicht orten zu können. Der II. : "Lass´uns mal die Tiefe messen." Er wusste, wo die jeweiligen Tiefen waren, wollte aber eine Bestätigung. Heute ist das keine grosse Prozedur. Damals schmiss man dafür eine kleine Bombe aussenbords. Die Stärke des  Rückschalls vom Grund konnte man auf der Brücke auf dem Echolot ablesen. Ich schmiss. Es knallte viel zu schnell und sehr laut. Wir hatten vergessen, dass die Gangway wegen der vielen Häfen, zur Zeitersparniss, abgeklappt blieb.Sie bremste die Bombe. Der Knall genügte, es war Krieg, um den ganzen Dampfer in Aufruhr zu versetzen. Als erster kam der Alte aus seiner Bude geschossen. Ein Kapitän in Unterhose ( ohne vier goldene Streifen ), war ein wunderlicher Anblick. Der II. musste übers Sprachrohr die Maschinenleute beruhigen. Jerzy und ich liefen durchs ganze Schiff, und klärten die verängstigten Passagiere auf. Zurück auf der Brücke, wie konnte es anders sein, musste auf den Schreck erst einmal ein Schluck genommen werden. In Unterhosen :"Der Seemann an Bord, das bin ich!" Ein Glas für mich, nicht zu klein, stand auf dem Kompass. Der Krieg verdarb die guten Sitten.


Urlaub
Nach einiger Zeit des Auf und Abs an der Ostseeküste, wurde unser Schiff in Danzig für die Lazarettfahrt ausgerüstet. Aussenbords und an den Schornstein kam das "Rote Kreuz". Sanitäter und Krankenschwestern kamen an Bord. Letztere, jung und nett, wurden im Salon von unseren hohen Herren hofiert. Eine der Schwestern, eine stramme Deern, knallte, kaum an Bord, ihr Gepäck auf die Luke und verkündete :"Ich mache einen Landgang." Zwei Stunden genügten. Vergnügt und mit bester Laune tauchte sie wieder auf. Ihr erstes Opfer, das sie "liebevoll" in den Arm nahm, war unser Bootsmann, der ihr körperlich weit unterlegen war. Es erinnerte an einen Ringkampf. Die Dame brauchte ihr Gepäck gar nicht erst auszupacken. Ihre Seefahrt endete schon vor dem ersten Ablegen. Mit den Ärzten wurde um die Wette gesoffen. Natürlich gewannen die Seeleute. Allen voran Hans Neuss. Er soff wie ein Loch. Ich machte bei diesem Zeitvertreib nicht mit. Mit meiner Vorliebe für Likör, wäre ich nicht weit gekommen. Und obwohl ich immer wieder mal "trainierte", vertrug ich nicht viel.
Wir liefen direkt, ohne Passagiere, nach Riga. Endlich mal keine Häfenabklapperei.
In Riga kam das Grauen an Bord, Kriegsversehrte mit fehlenden Gliedmaßen und grauen Gesichtern, von Sumpffieber gezeichnet. Am bedauernswertesten waren die ganz in Mullbinden Verpackten. Draussen war schwere See. Die Einbeinigen mussten gestützt werden. Alle, auch das Pflegepersonal waren seekrank. Die Verbände wurden kaum noch gewechselt. Der I. Steward hatte Bedenken, dass er den Geruch von Erbrochenem , Blut und Eiter je wieder aus den Kabinen bekäme.
Für mich war das zuviel. Beim Ausguck auf der Back, fasste ich einen grossen Entschluss. Nach der Wache ging ich zum Alten. "Meinen ersten und einzigen Urlaub, habe ich am 9. September ´39 beantragt. Leider kam ein "kurzer" Krieg dazwischen. Jetzt haben wir 1942, es wird Zeit für mich." Wie es die Art des Alten war :"Reisende soll man nicht aufhalten. Hau´ab, bleib´ vier Wochen."
Zuerst fuhr ich nach Kiel zu den Eltern. Mir war langweilig. Alle Bekannten waren auf "Weltreise", von Norwegen bis Afrika, bis zum "Leben, wie Gott in Frankreich". In Russland freute man sich, bald im Kreml zu sein. Vater arbeitete bei der Offizierskleiderkasse, Mutter hatte sich im Marineverpflegungsamt eingerichtet. "Geniesse den Krieg, der Frieden wird schrecklich".
Meine nächste Station war bei den Grosseltern in Bremerhaven. Grossvater war pensioniert, und zog sich die meiste Zeit in seinen Schrebergarten zurück. Man saß wegen Fliegeralarm schon öfter mal im Keller. Grossvater :"Gott strafe England!" Erschrocken entschuldigte er sich sofort. Wir hatten eine englische Mitbewohnerin, die ein Fischersmann, vor dem Krieg, aus Hull mit gebracht hatte. Noch waren es nur überfliegende Verbände. Schäden gab es noch nicht, fast noch nicht. Bei Kriegsbeginn hatte sich eine Bombe nach Bremerhaven verirrt. Wohl ein Notabwurf, um mit verringertem Gewicht noch nach England zurück zu kommen. Das erste Bombenopfer in Bremerhaven war der alte John Gaugk, ironischerweise einer mit echt englischem Namen, und der grösste Kommunist im Ort.
Auch in Bremerhaven, kaum Freunde, kaum Bekannte. Viele hatten sich freiwillig gemeldet. Einen Schufreund traf ich. Ihm hatten sie den Arm steif geschossen. Aber er war zufrieden. Ich war verwundert. Er freute sich, jetzt studieren zu können. Die Welt war rundherum aus den Fugen geraten. Ich hatte auf den verschiedenen Schiffen kaum etwas davon mit bekommen. Ich sehnte mich nach der relativ heilen Welt bei der Seefahrt zurück.
Kalli -  Karl Krause, ein alter Freund vom Segelklub - mein Jahrgang - hatte seinen Einberufungsbefehl schon in der Tasche. Er suchte für einen letzten Segeltörn, einer kleinen Regatta auf der Weser bis nach Vegesack, einen Vorschootmann. Zu dritt, Hans Bäuerle war dabei, schipperten wir los. Trotz des Windes litten wir unter dem Fischgeruch, den Hans meist aus strömte. Er war Lehrling in einem Lebensmittelladen gegenüber der Gaststätte "Drei Kaiser" in der Keilstrasse. Hans war nicht der fleissigste und musste zu Strafe oft in den Keller, um die eingelegten Heringe umzupacken. Auf dem Rückweg hatten wir beim Kreuzen einen Mastbruch. Mit dem "Holzmotor", also rudernd, fuhren wir nach Vegesack zurück. Mit der Reichsbahn traten wir die Heimreise an. Hans versteckte sich die ganze Fahrt über auf der Toilette, weil wir ihm gesagt hatten, wir hätten kein Geld und würden schwarz fahren. Im Herbst wurde Kalli Soldat. Ich sah ihn erst nach dem Krieg wieder. 
Ich wurde gedängt, mir Lebensmittelkarten, zu holen. Nötig hatte ich sie nicht. Mutter hatte mich ( sie saß im richtigen Amt ), mit genügend Reisemarken versorgt. "Frag´ nie, nach dem Woher!" Und bei Freunden gab es immer einen Hering mit Bratkartoffeln. In Tran, vornehm "Fischöl" gebraten, waren sie zwar gewöhnungsbedürftig, aber in der Kriegszeit ein Schatz. "Hol´die Marken," hiess es, "Oma kann sie gebrauchen." Ich ging zum enprechenden Amt. Aber in Bremerhaven stand ich nicht mehr auf der Meldeliste. Also gab´s auch keine Karten. Ich gab Grossmutter meine letzten Reisemarken und verschenkte meine letzten Urlaubstage, an wen auch immer. Ich wollte zurück in meine enge, heile Seefahrtswelt. Dort fühlte ich mich zu Hause, dort waren meine Freunde.


Soldbuch und Wehrpass
Ich wurde mit "Hallo" empfangen. Wilhelm, mein Partner an der Spring :"Du hast mir gefehlt." Die Geschichte von meinem Ersatzmann musste ich mir ein paar Mal anhören. Mit Emil, einem Leichtmatrosen, hatte Wilhelm beim Festmachen seine Last gehabt. Beim An- und Ablegen waren auf dem Vorschiff nur zwei Mann und ein Offizier, und der fehlte oft. Die Winsch war nicht besetzt, man liess sie laufen. Die Geschichte, die Wilhelm erzählte, schmückte er bei jeder Wiederholung mehr aus. Beim Einlaufen in Libau war der Draht an Land fest. Die Fahrt war aus dem Schiff. Wilhelm stand, damit das Schiff den Draht nicht mit nahm, darauf. Emil versuchte, den Draht auf die Winsch zu bekommen. Nur, die Winsch drehte vorwärts. Der Draht kam Emil immer entgegen. "Emil, von unten auflegen!" schrie Wilhelm:" Oder betätige die Umsteuerung!" Die Brücke schrie beides. Die Umsteuerung hätte die Winsch rückwärts laufen lassen. Emil befolgte beide Befehle, die sich aber natürlich gegenseitig aus schlossen. Der Draht wollte wieder nicht auf den Winschenkopf. Der Offizier musste runter, um die Sache zu bereinigen. Und das alles ohne Schlepperhilfe. Emil hiess von da an nur noch :"Umsteuerungs - Emil". Ich war wieder in meiner kleinen, normalen Welt. Aber nicht lange!
Ein Feldwebel, ein so genannter "Kettenhund" und zwei Mann mit Gewehr, kamen an Bord. Ich sollte verhaftet werden. Unser Alter hörte sich das an. Es war die Rede von Wehrkraftzersetzung, Entziehung von der Musterungspflicht, vielleicht auch Fahnenflucht. Ich hatte den Käpt´n noch nie so wütend gesehen. Die Soldateska, wohl auch wegen seiner vier Ärmelstreifen, stand stramm. "Ihre Dienststelle soll mir das schriftlich mitteilen!" Der Brief kam prompt. Er enthielt eine Strafandrohung wegen Fernbleibens von der Musterung, sowie ein Datum zur Nachmusterung. Eine Aufforderung zur Musterung hatte ich aber nie erhalten. Vielleicht, weil ich weder in Bremerhaven, noch sonst irgendwo gemeldet war. Hatte mein Nachfragen nach Lebensmittelkarten in Bremerhaven den Stein ins Rollen gebracht? Bei der Nachmusterung in einer vornehmen Villa in Danzig - Oliva wurde ich erst einmal, wie man so sagt, zusammen geschissen. "Der Jahrgang wurde auch in den Zeitungen aufgerufen!" Wie sollte ich das wissen, wo ich doch so selten an Zeitungen kam. Das ganze war ein schlechtes Schauspiel. Wir waren für das Musterungskomitee alles Verbrecher, die dem Führer den Dienst verweigern wollten. Bevor sie uns nackt durch die Villa scheuchten, fiel ihnen meine blaue Marineturnhose auf. Das schien ihnen verdächtig, sie wollten genau wissen, woher ich die hatte. Die Offizierskleiderkasse in Kiel wollte ich, wegen Mutter, nicht erwähnen. Sie begnügten sich, vielleicht auch mit Respekt, mit meiner Aussage, dass Vater bei der 7. U - Boot - Flotille sei. Sie wurden etwas freundlicher zu mir. Die anderen blieben für sie Gesindel. Einige kamen auch wohl aus dem Knast, andere aus der Irrenanstalt :"Alles bloss Simulanten!" Am Ende waren wir alle k.v. - kriegsverwendungsfähig - . Ich bekam einen Wehrpass, und ein Soldbuch. Von Strafe war keine Rede mehr.

   Danzig - Oliva  (Aus "Danzig u. seine Seebäder")

Ich war der einzige, der an Bord einen Wehrpass hatte. Ich packte ihn in meinen Spind, wo er lag, bis ich in Riga eine neue Nahrungsquelle entdeckte: Das Offizierskasino! Standardmenue waren Spaghetti mit Fleischklösschen. Die Wache am Tor, lettische Wehrmachtssoldaten, wollten mich Zivilisten nicht hinein lassen. Der UvD hatte, nachdem wir eine Zigarette geraucht hatten, keine Bedenken und die Macht. Bei weiteren Besuchen nahm ich zur Überzeugung der lettischen Kameraden meinen Wehrpass mit.
Eines Tages traff ich an meinem Tisch auf einen "Raupenträger". Meine Kenntnisse über militärische Ränge endete beim Hauptmann mit zwei Sternen auf den Schulterstücken. Die, mit den geflochtenen Bändern, den "Raupen, mochten Majore, oder Oberste sein.Er druckste herum :"Gestatten Sie, das ich Sie einer Zigarette beraube?" Meine Zigaretten, die auf dem Tisch lagen, waren von einer Qualität, die er lange vermisst hatte. "Wir rauchen hier nur noch Machorka. Darf ich mich erkenntlich zeigen?" Eine Flasche französischen Beuteweins zu fünfzig Pfennig kam auf den Tisch. Er stellte sich vor :"Marseille" , und er hätte Grund, zu feiern. Ein Verwandter hatte zum Ritterkreuz Schwerter, Diamanten oder Eichenlaub bekommen. Ich weiss es nicht mehr genau. Ich feierte also in Riga die lang ersehnte Erfüllung eines Wunsches, zu den "Halsschmerzen", wie das Ritterkreuz auch genannt wurde, noch eine Verzierung zu bekommen.
Ich überliess ihm zum Abschied meine Zigaretten.

Immer was los
In Danzig - Neufahrwasser spielte Gottfried in der Gaststätte "Zur Hütte" auf einem verstimmten Klavier. Ein Koch von der "Steuben", die hier lag, feierte seine Hochzeit. Acht Tage dauerte das Fest. Jedermann war eingeladen. Es waren auffällig viele Damen aus dem Rotlichtmilieu anwesend. War das Buffet won den Massen leer geräumt worden, gab es Nachschub von der Steuben. Wir wurden von Gottfried mit dem Lieblingslied der Braut: "Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt" von Camilla Horn, dauerberieselt. Später hörte man, dass der Koch, als er wieder nüchtern war, sich hatte scheiden lassen. Als ich ihn nach dem Krieg in Bremerhaven wieder traf, war er wieder verheiratet und hatte Familie. "Heinz, erzähl´bloss nichts von meiner Eskapade in Danzig. Hier weiß keiner davon."

Sommer, Sonne und alles relativ friedlich; die Ostsee spiegelglatt und eine Luft, die die Nase umschmeichelte. 12-4 Tageswache, Mittagszeit. Ruhe im Schiff, auf dem Vordeck einige sonnenhungrige Passagierinnen. Hans, der II. :"Die würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen!" Jerzy stand am Ruder, wir dösen vor uns hin: Hans auf der Steuerbordnock, ich auf Backbord. Nock ist das, was Landratten einen Balkon nennen würden. Plötzlich, hundert Meter vor uns ein Fischkutter im toten Winkel des Vorschiffs, man sah ihn nur seitlich von der Nock aus! Ich in die Brücke, schrie :"Jerzy! Hart Backbord!" Jerzy guckte mich verdutzt an. Ich griff ins Ruder. Wann reagierte der Kahn? Endlich! Der II., die Ruhe selbst :"Jetzt wieder hart Steuerbord, sonst erwischen wir ihn mit dem Arsch." Das war gerade noch mal gut gegangen. Der II. :"Wieso die Aufregung? Der ist aus Holz, wir sind aus Eisen." Der abrupte Kurswechsel hatte den Alten im Mittagsschlaf gestört. "Was war los?" "Ach, da ist uns bloss einer in die Quere gekommen." Für die Sonnenanbeter war es eine spannende Abwechslung.

Es war immer irgendwas los. Auf Revierfahrt, den langen Törn von Riga die Daugav hinunter, sollte der Lotse mal verwöhnt werden. Im Krieg ging das am besten mit Schnaps. Der lettische Lotse liess sich nicht lange bitten. Der Alte öffnete seinen "Giftschrank". Ich stand am Ruder und bekam auch mein Glas. Jerzy musste aus der Kombüse Brot holen. Der Lotse wollte, wie im Osten üblich, seinen Schnaps nur in Verbindung mit etwas zu essen trinken. Hein Bremer hätte gesagt :"Das is hier Usus." Der Krieg war "Usus". Der Alkohol war "Usus".
Die "Stoffbeschaffung" kostete immer viel Energie. In Riga bekamen wir einmal eine seltene Ladung: hochprozentigen, russischen Wodka in kleinen, ca. Halbliterflaschen; wahrscheinlich Beuteware. Mein Ladungsoffizier war Hans :"Lös´mal einen der Letten an der Winsch ab. Er soll mal Pause machen. Das war der Hinweis für meinen Einsatz. Es dauerte nicht lange, und - Ach, wie ungeschickt! -  setzte ich einen Hief auf die Lukenkante. Das ging nicht ohne Bruch ab. Der zweite Lette an der Winsch grinste. Der Ladungsoffizier tat seine Pflicht und registrierte den Schaden. "Ist ja versichert." Die beiden Letten, die Gesichter strahlten, bekamen eine Flasche. Ich stopfte mir noch vorsorglich in jeden Gummistiefel eine Flasche. Die Korken waren keine, sondern kriegsbedingt Pappstopfen. Bald stand ich mit einem Fuß in Wodka. Ich rettete so viel wie möglich davon, indem ich auch meine Wollsocke auswrang. In Danzig verschwand er dann unter grossen Hallo im "Pot of Pi".
Wir hatten Werftzeit in Riga. Alle Ritzen wurden verstopft. Tod den Kakerlaken! Wir schliefen im Hotel. Allgemeine Meinung: Gute Gelegenheit, mal wieder ins Kino zu gehen. Ich hatte ewig keinen Film mehr gesehen. Es lief irgendetwas mit Heinz Rühmann. Ich, was Wunder, schlief ein. Rühmann sang :"Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,..."

Was mich Seemann erschüttern konnte, war der Gedanke an den Zahnarzt.
 Ein Zahn machte mir Ärger. Vor Beginn meiner Lehrzeit hatte ich zum Zahnarzt gemusst. Ich hatte panische Angst. Der junge Anfänger hatte es nach etlichen Klimmzügen auf gegeben, mir einen Backenzahn zu ziehen. "Wir machen eine Wurzelbehandlung." Dieser Zahn meldete sich jetzt wieder. Es war gar nicht so leicht, in Danzig einen Arzt zu finden. Die meisten waren an der Front, zur Versorgung der Soldaten. Ich fand mich in einem "plüschigem" Wartezimmer wieder, die Wände voller Urkunden. Der Zahnarzt war im vorigen Jahrhundert ein grosser Sportler gewesen. Er musste so um die Achtzig sein. Dass ich der einzige Patient war, verstärkte mein mulmiges Gefühl noch. "Bitte sehr!" Ein kleines Männchen bat mich auf einen mittelalterlichen Folterstuhl. Ich dachte an die Klimmzüge. Ob mit, oder ohne Betäubung, ich weiß es nicht, zack! war der Zahn  raus. Mit noch weichen Knien, aber erleichtert kam ich zurück aufs Schiff.

Die nächtlichen, sommerlichen Wachen waren immer ein Erlebnis. Hans war einer meiner grossen Lehrmeister. Ich erfuhr viel über den Sternenhimmel. Spannend war auch die Seekarte, die flach auf dem Tisch liegt, während die Erde rund ist. Mit dem Funkpeiler konnte man fremde Musik empfangen. Einen Funker gab es nicht an Bord. Wozu auch, es durfte sowieso nicht gefunkt werden. Jerzy hatte an all dem überhaupt kein Interesse. Andauernd gab es Schwierigkeiten durch den Ausfall der Landfeuer oder durch Fliegeralarm, obwohl kein Flugzeug auftauchte.
Mein Vater drängte. Er hatte das Geld für die Steuermannsschule liegen. Sie lag ganz in der Nähe, in Gotenhafen, dem polnischen Gdynia. Der II. meinte, ich solle bis nach dem Krieg warten. Den Satz: "Weihnachten ist der Krieg aus", hörte man immer seltener.
Wir bekamen vom Krieg selbst nicht viel mit. Doch er musste irgendwo stattfinden. Wir holten wieder Verwundete aus Riga.Dort wurden auch riesige Mengen an Kriegsbeute ein geschifft. Wir lachten über Geschütze mit Ackerwagenrädern. Kannten wir doch die modernen gummibereiften Geschütze. Man klärte uns darüber auf, dass die hohen, breiten Ackerwagenräder im russischen Matsch besser geeignet waren.
Gefangene maschierten im Hafen, zu verschiedenen Arbeitseinsätzen vorbei. Sie sprachen nicht russisch, sondern deutsch. Was das für Leute waren, darüber machte sich keiner Gedanken.


Im Konvoi
Gedanken machte sich aber die oberste Heeresleitung. Vom Krieg war nichts zu sehen, aber wir mussten im Konvoi fahren. Die Wache wurde durch einen III. Offizier verstärkt. Der Alte kam nicht mehr von der Brücke. Der II. saß nicht mehr, um "ein Stück mit zu fahren", auf der Flaggenkiste. Es gab eine grosse Debatte darüber, wie nahe die Schiffe sich im Geleit kommen dürften, ohne in den Sog zu geraten.
Das Lampenmorsealphabet musste aufgefrischt werden. Die Geleitschutzsicherungsboote, ehemalige Fischdampfer und KFK - Kriegsfischkutter - hatten es sehr wichtig mit ihrer Morserei. Kommandant an Kommandant :"Brake, schliessen Sie auf !", oder :"Fallen Sie zurück !" durch das Sprachrohr an Maschine :"Zwei Umdrehungen mehr, zwei Umdrehungen weniger."
Die ganze Morserei musste, obwohl sie nicht immer uns betraf, natürlich immer mit gelesen werden. Wir wussten ja nie, wann eine Nachricht für uns dabei war. So hörten wir auch die internen Informationen. Bei schwerer See einmal :"Unsere Wasserbomben haben sich los gerissen. Man konnte sich vorstellen, dass es für die Besatzung kein Vergnügen war, Die losen Dinger an Deck zu haben.
Obwohl für uns die Navigation entfiel, wir mussten nur hinter her trotteln, bestand der Alte aufs Kursabstecken. "Was ist," so seine Überlegung,"wenn sich bei einem Angriff der Konvoi auflöst? Ich will dann den richtigen Kurs haben - Der Seemann an Bord, das bin ich!" Es wurde auch darüber diskutiert, welches die beste Position im Konvoi wäre. Eine Aussenposition wäre bequemer und sicherer. Man hätte nur Einen an der Seite, und könnte bei einem Fliegerangriff ausscheren. Andererseits wäre man bei einem U-Bootangriff am gefährdesten.
Da wir Riga direkt anliefen, die Zwischenhäfen ausliessen, konnten wir auf Freiwache endlich mal wieder durchschlafen. Einige vermissten in Pillau die Pause, um in der "Ilskefalle", der Kneipe an der Abfertigungshalle ein schnelles Bierrunter zu kippen.
          Irgendwann schien sich die Lage beruhigt zu haben. Es kam ein Befehl der obersten Heeresleitung. Wir fuhren wieder solo, ohne Konvoi. Die Gefahr schien gebannt. Täglich leierte der Wehrmachtsbericht :"Leningrad ist eingeschlossen, unsere tapferen Truppen stehen vor Moskau." "Vielleicht sind wir doch Weihnachten wieder zu Hause. Und in St. Martha sind die Bananen schon überreif. Die Mädchen dort warten wohl auch schon sehnsüchtig auf ihre Flasche "Koibri". "Kolibri" war die große, billige Flasche Parfum vom Zollfreilager. Sie garantierte in vielen Häfen "Eine Nacht voller Seligkeit".
Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang. Wir gondelten über die Dörfer - Pillau, Memel, Libau - Endstation: Riga. In Danzig wurde der "Pott off Pi" trotz Versorgungsschwierigkeiten weiterhin gefüllt, und wir streiften wieder durchs Nachtleben. "Cafe´ Langfuhr" in der Adolf-Hitler-Gasse war jetzt fest in Marinehand und musste ausgelassen werden. Wir Zivilisten hatten keine Chance. Die Damen standen auf Uniform, aber nur von der Marine. Es half auch kein Ritterkreuz.


Seifenstein
Ein Wort geisterte durch das Schiff :"Seifenstein". Ich wusste nicht, was das war, und wofür man ihn verwendet. Durch fragen erfuhr ich, dass man für diesen "Pfennigartikel", der in Danziger Apotheken und Drogerien gekauft wurde, in Lettland hohe Preise erzielen konnte. Aber warum? Aus Seifenstein und viel Fett wurde Seife hergestellt. Brauchte man in Lettland soviel Seife? Es ging das Gerücht um, es fände Verwendung bei der Herstellung von Sprengstoff. Wie war das im letzten Krieg mit dem Salpeter aus Südamerika? Was vorher Dünger war, wurde ein Rohstoff für Sprengstoff. Das führte zum Untergang vieler Clipper. Die Engländer versenkten jeden, den sie erwischten. Einige davon hatte mein Grossvater noch auf der Geestemünder Tecklenborgwerft mit gebaut. Jeder, auch die Mittschiffsleute handelten damit. Aber alles lief unter einem geheimnisvollen :"Nicht darüber reden!" Das sah ganz nach verbotenem Tun aus. Ich spannte für den Einkauf meine "Pisspottkameraden" ein. Auch sie :"Wofür wird das gebraucht ?" Sie grasten, während ich auf See war, Danzig und Umgebung ab. Man fragte verschämt immer nur nach einem Kilo in Drogerien und Apotheken, Mehr zu verlangen, wagte man nicht, um Fragen nach dem Verwendunszweck aus dem Weg zu gehen. Kriegswichtig schien Seifenstein für Deutschland nicht zu sein. Er war nicht rationiert. Die Händler müssen über die grosse Nachfrage verwundert gewesen sein. Wir waren nicht das einzige "Schmuggelschiff" auf der Rigatour. Bald wurde der Stoff, wie alles, kriegsbedingt knapp. Andererseits sah ich in Riga, während ich nur Kilomengen hatte, wie ein 50-Kilo-Kanister auf der Wasserseite in ein Ruderboot abgeseilt wurde.
Seifenstein wurde in Plättchenform verkauft. Er war ätzend. Unterm Fingernagel sitzend, wie geschehen, frass es den halben Finger weg. Der Lette im Ruderboot kontrollierte die Ware mit der Zungenspitze und spülte mit Hafenwasser nach.
Das ungute Gefühl bei unserem Handel wurde durch die Art der Bezahlung verstärkt. In Lettland wurde nicht mit Reichsmark bezahlt. Man bekam Reichskreditkassenscheine, das Besatzungsgeld für die besetzten Ostgebiete.
Wir lebten im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Made im Speck. Seifenstein im Tausch gegen Butter und Speck. Lettische Schweine hatten reichlich dicken, fetten Speck. Maden wurden mit geliefert. Nach acht Tagen lief der Speck von alleine. In welchem Zustand hat er wohl, von treusorgenden Familienvätern nach Hause geschickt, die Heimat erreicht? Mit steigenden Umsätzen lieferten wir nur noch gegen Bares, und kauften in der Rigaer Markthalle nach Bedarf ein.

    Rigaer Markthalle (Aus: "Nordsee Zeitung")


Die Markthalle, ein imposanter Bau, quoll über vor landwirtschaftlichen Produkten. 1942 im deutschen Reich schon ein unbekannter Anblick. Riesige Klötze Butter luden ein zum probieren. Sachkundige Hausfrauen schabten mit dem Daumennagel Proben ab. Wir taten es ihnen nach und waren bald satt.
Auch in Danzig konnte man das Besatzungsgeld stellenweise los werden. Ich versuchte es in der Strassenbahnlinie 8 von Danzig - Neufahrwasser mit kleinen Scheinen. 
Die Schaffner der letzten nächtlichen Bahn kannten uns alle. Sie bekamen fürs Wecken in Neufahrwasser immer ein paar Zigaretten. Einer der Schaffner war ein ganz lustiger, aber er machte gefährliche Scherze. Eine Haltestelle hiess "Schichau - Kolonie". Es war das Wohngebiet der Schichauwerftarbeiter. Bei Ansage der Haltestelle konnte er sich folgenden Kommentar nicht verkneifen :"Der Führer freut sich, hat er doch Danzig wieder und eine Kolonie dazu."

                     Innenansicht einer Danziger Straßenbahn, ca. 1929
                     (Aus "Einst in Danzig")


Holzgasse 29
Mit dem ersten der fremden 100 Markscheine bezahlte ich in der "Alhambra - Bar" problemlos meine Likörchen. Ich kannte die urige Bar in einem Kellergewölbe eines der mittelalterlichen Häuschen der Brotbänkengasse von meinen Streifzügen. Als Wechselgeld bekam ich "echtes" Geld. Was ich sonst noch mit den Scheinen anfangen könnte, wusste ich nicht, aber mit diesem Verwendungszweck war ich zufrieden. Ich hielt die Quelle meines "Reichtums" geheim, nannte die Strasse "Geldbänkengasse" und wurde gern gesehener Stammgast in der "Alhambra". So war das Geld "Wie gewonnen, so zerronnen". Ich war froh, es los zu werden, hatte ich doch ein schlechtes Gewissen. Die Gaststätte wurde für mich ein neuer Anlaufpunkt, da die Pisspottbande sich langsam auflöste. Gottfrieds Bruder, der Assistenzarzt wurde wieder an der Ostfront gebraucht. Seinen "Kommissarstern", den er immer im Portemonnaie hatte, wird er wohl nicht mit genommen haben. Er hatte erzählt, es hätte einen Kommissarbefehl gegeben. Das hiess, dass alle russischen Offiziere, die Politkommissare waren, bei Gefangennahme sofort erschossen werden sollten. Deutschen Soldaten, die den Russen in die Hände fielen und einen Kommissarstern als Trophäe bei sich hatten, blühte das gleiche. Johannes hatte ihn im Lazarett einem toten Russen abgenommen.
Marianne, die Bardame, schmiss den ganzen Laden. Der Chef hatte nichts zu sagen. Marianne war eine ehemalige Klosterschülerin. Ihr Wahlspruch war :"Gott sprach, es werde Licht,doch "Scheisse!" es funktionierte nicht. Sie hatte sowieso die halbe Bibel drauf und nahm es mit der ganzen nicht so genau. Die Musik, drei Mann, waren auf der Höhe der Zeit :"Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei und im Dezember gibt´s auf Abschnitt B wieder ein Ei!" Sie unterlegten jedes Stück mit eigenem Text, der, den Damen ins Ohr gesungen, diese aufjauchsen liessen. Nach dem Rausschmeißer :"Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, bleib´nicht so lange fort, nachher wird´s nochmal so schön...," wurde es in kleinem Kreis, wie besungen "Nochmal so schön".
Fast regelmässig verpasste ich die letzte Bahn. Ich pennte, ewig müde, im Bahnhof oder wegen Verhaftungsgefahr im Park auf einer Bank. Als Marianne davon hörte, es war wieder spät geworden, hatte sie als Christenmensch Mitleid :"Komm´ mit, aber nur !" "Ja, ja!" Todmüde dachte ich sowieso nur ans Schlafen. Marianne :"Versprich´es mir !" "Was? Ja, ja!" Marianne abschliessend :" Wegen der Zimmerwirtin musst du ganz leise sein und im Zimmer wird nicht geraucht!"
Ich war zufrieden, und Marianne, nach dem guten Frühstück zu urteilen, wohl auch. Die letzte Bahn zu verpassen wurde zur Gewohnheit.
Sie wohnte in der Holzgasse 29. Als Drachenfutter für ihre Wirtin musste ich immer ein Fläschchen mit bringen. Ich erfuhr erst vor wenigen Jahren, dass es gar nicht ihre Wirtin, sondern ihre Mutter gewesen war.Ich bin ihr nicht böse. Jeder versuchte damals über die Runden zu kommen.
Mariannes Freundin arbeitete in der "kriegwichtigen" Schokoladenproduktion. Sie wurde nur das "Schokoladenmädchen" genannt. Schokolade, sonst nicht zu bekommen, hatten wir in Hülle und Fülle. "Geniesse den Krieg, der Frieden wird schrecklich". Hans, mit dem ich  inzwischen privat per "Du" war wunderte sich über meinen Schokoladenreichtum. Auf nächtlicher Wache gab ich mein Geheimnis preis. Ich nahm Hans mit ins "Alhambra". Er fand das Schokoladenmädchen nett und lernte, weil es auf Gegenseitigkeit beruhte, die Holzgasse kennen. Zu viert machten Schnaps und Schokolade und Beisammensein noch mal so viel Spaß. In Zukunft beteiligten wir uns mit manch einem Fläschchen an den Mietkosten. Die Wirtin könnte so schlafen, trotz der Störung und hätte keine kalten Füsse mehr berichtete Marianne.


  
                             St. Katharinen

                 


Nächste Verhaftung
Uns ging´s gut. Doch als der Bootsmann eines Tages zu mir sagte :"Sollst zum Alten in den Salon kommen. Was hast du denn schon wieder verbrochen?" und ich kurz darauf vor ein paar Militärs stand, packte mich das schlechte Gewissen. Das konnte nur der Seifenstein sein. Der Alte :"Wo ist dein Wehrpass ?" "Im Spind!" Was hatte der Wehrpass mit dem Seifenstein zu tun?" "Hol´ ihn und fahr´ mit den Leuten!" Es ging wieder zur Villa nach Danzig - Oliva.
Ich saß auf einem Stuhl in der Mitte eines großen Zimmers. Aus allen vier Ecken kamen immer die gleichen Fragen. Alle drehten sich um den Wehrpass ; nichts mit Seifenstein.
"War der Wehrpass im Ausland?" "Ja." "Wer hat ihn gesehen oder in der Hand gehabt?" "Keiner ausser mir." Das mit dem Kasinobesuch in Riga verschwieg ich lieber. Immer wieder die gleichen Fragen. "Ist das ein Kreuzverhör?" Ich konnte ihnen nicht mehr sagen, ich wusste nichts. ich saß da, wie blöd. Sie gaben schliesslich auf und fuhren mich zurück. Warum ich verhört worden war, erfuhr ich nie. Im Krieg passiert allerhand Seltsames.
Hermann, unser Bootsmann konnte seinen Lieblingsspruch los werden :"All´ deine Leiden trage mit Geduld. Wer zur See fährt, der ist selber schuld!"
                          (Aus: "Danzig u. seine Seebäder")

Frauen an Bord
Unsere beiden Mädchen hatten einen Wunsch. Sie wollten uns mal an Bord besuchen. Das Problem war, es war nicht erlaubt. Hans hatte die Lösung. "Nächste Woche fährt der Alte in Urlaub. Didi, der I. hat Besuch von seiner Frau, und sie wollen ins Binnenland fahren. Wir nehmen die Bude vom Alten. Hoch oben auf dem Bootsdeck hinter der Brücke hört uns niemand und wir stören keinen."
Der grosse Tag kam. Wir schauten dem Alten nach, wie auf der Kaje Richtung Heimat maschierte, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich weg war.
Wir bereiteten alles vor. Die notwendigen Fläschchen wurden besorgt, die Privatsachen vom Alten versteckt und die Bude mit Signalflaggen geschmückt. Mein Koffergrammophon kam endlich einmal wieder zu Ehren. Ich hatte deutsche und auch englische alte Platten. Viele klangen sehr wellig. Sie hatten einmal in der Sonne gelegen. Eine Platte passte zum Wunsch unserer Mädchen, einmal an Bord zu übernachten :"So ein Traum erfüllt sich schnell, eventuell...". Auf diese Melodie gab es auch einen Text der Alhambramusiker. Bei ihnen gab es kein Lied mit Originaltext.

                            "Bei uns zu Haus´auf dem Balkon,
                             da steht ein alter Pappkarton.
                             Da wohnt Frida, unser Hühnchen,
                             und neben an schläft Maxe, das Kaninchen.
                             Eines Nachts, da war´s passiert,
                             da hat der Max das Huhn verführt.
                             Nun stell´ dir einmal vor,
                             ein Hühnchen mit Kaninchenohr!"


Jetzt konnten wir die Damen von der Straßenbahn abholen. Um sie möglichst unauffällig an Bord und auf die Brücke zu lotsen, täuschten wir eine Schiffsbesichtigung vor. Alles ging glatt. Wir freuten uns. Was noch folgen sollte, ahnten wir nicht.
Hans hatte - "Frag´nie, woher" - was gutes zu Essen besorgt. Auch die Damen hatten Vorsorge getroffen. Neben "Flüssigkeiten" gab es echte "Metka", fette Mettwurst, die ihre polnische Herkunft nicht verleugnen konnte.
Das Schokoladenmädchen wollte auch heute nicht mit ihrem Namen raus rücken. Nach dem Motto des Liedes :"Du kannst mich lieben für drei tolle Tage, nur nach meinem Namen frage bitte nicht !" "Nennt mich Heidi", sagte sie. Später erfuhr ich von Marianne, dass sie sich ihres polnischen Namens und ihrer polnischen Herkunft schämte.
Es wurde lustig und lustiger. Wir hatten viel Spaß. Wir tranken, aßen und sangen die Lieder mit. Doch dann kam das abrupte Ende. Wir erschraken mordsmässig. Es gab Geräusche nebenan im Kartenhaus, die Tür wurde aufgestossen, und im Raum stand schwankend der Alte, Scheissendick! Er starrte uns verwundert an, und wir starrten zurück. Wo kam er jetzt her? Er müsste längst im Zug Richtung Heimat sitzen. Unser Kapitän lallte :"Wusste garnicht, dass ich Besuch habe. Nette Damen!" Hans bedeutete mir in Zeichensprache :"Schenk´ihm einen ein." Ein Doppelter reichte. Bald schnarchte er glückselig. Wir beseitigten alle Spuren genau. Die Damen hatten Spaß an der Situation, wir weniger. Der alte Spruch :"Alles, was nicht über die Reling pinkeln kann, gehört nicht auf ein Schiff !" hatte schon seine Berechtigung.
Am nächsten Tag ging ich dem Alten aus dem Weg. Hans hatte eine beruhigende Nachricht :" Er weiß nicht mehr viel von gestern." Glück gehabt! Ich musste das Gepäck
vom Alten von einem Schiff in der Nähe holen. Dort hatte er etwas zu ausgiebig mit seinem Freund Wilhelm Abschied gefeiert, und den Zug verpasst. Damit war das Rätsel seines plötzlichen Erscheinens gelöst. Ich brachte ihm das Gepäck an den Bahnhof und holte gleichzeitig den eingetroffenen Ersatzkapitän ab. Er war auch alter "Unionsfahrer" und allen an Bord, ausser mir bekannt.
                                    Frauengasse, Dresden
Der Herbst zog ins Land. Keiner hatte mehr Hoffnung auf ein Kriegsende zu Weihnachten. Der Alte schien kaum noch dem Beruhigungsmittel unserer Zeit, dem Alkohol zu zusprechen. Kommentar Hans :"Die saufen heimlich unheimlich." Der Schlachtruf der "Union" war damals :
                                                      "Schwarzes "U" am Schornstein,
                                                       himmelhoher Brand,
                                                       Unionpiraten werden wir genannt!"

Auch die Besatzungen der Bremerhavener  Bugsierreederei Schuchmann benutzten diesen Spruch, allerdings besangen sie ihr schwarzes "S" am Schornstein. Piraten, das passte auch besser zu Schuchmann. Neben seinen Bergungsschleppern, "Seefalke" und anderen hatte er noch eine "Never come back" Linie. Von denen man glauben konnte, das Schuchmann sie vom Grund des Meeres hatte.Es waren schrottreife Seelenverkäufer, die wohl mehr Beton, als Ladung schleppen mussten. Der Beton diente zum Abdichten der Lecks. Wenn bei schlechtem Wetter das Schiff arbeitete, knallten die Nieten raus. Die Lecks wurden dann mit einer Speckseite abgedichtet. Davor wurde zwischen den Spannten ein Holzkasten verkeilt und mit Beton verfüllt. Ein ehemaliger Schuchmannfahrer meinte mal, dass er sich zuerst gewundert hatte, wofür so viel Zement an Bord kam.


                                          Artushof, Dresden

 
                                  
Wir gondelten weiter unsere gewohnte Tour :Pillau - Memel - Libau - Riga.
Wilhelm, mein Partner an der Spring, ärgerte sich beim Festmachen in den Häfen über unseren neuen Käpt´n. "Der soll doch sein Maul halten!"
Nachts auf Wache, in der Eisamkeit der Ostsee merkten wir nichts vom Krieg, nichts von der aufgeregten Zeit. Jerzy am Ruder hatte keine anderen Interessen ausser dem, wann der Krieg endlich zu Ende sei. Er sehnte sich nach Polen zurück. Hans drückte auf die Morselampe. Im Lichtkegel über der Brückennock sahen wir den ersten Schnee. Er fiel fast waagerecht und nahm uns jegliche Voraussicht. Auf der Brücke bemerkte man durch die Windabweiser nichts davon. Mit dem Schiff blind durch die Ostsee. Danke an den Kompass. Sein sanftes Licht hatte etwas beruhigendes.
Einen Kompass für die Fahrt durchs Leben, durchs Weltgeschehen gab es leider nicht. Hätte es in Danzig nicht die "Alhambra" und Marianne gegeben,  wäre ich recht einsam gewesen. Gottfried büffelte für den Steuermann, sein Bruder flickte deutsche Soldaten an der Ostfront zusammen. Der "Pisspott" wurde weiter benutzt, aber es waren neue Leute. Drei, vier - ein Lied :"Es geht alles vorüber,....!".
Meinen ersten Fliegerarlarm in Danzig erlebte ich im tiefen, sicheren Gewölbe der "Alhambra - Bar". Marianne steckte mir eine Flasche Likör in die Brusttasche meines Mantels. Getränkt wurde dann nicht ich, sondern, weil die Flasche keinen Korken hatte, mein Mantel. Später machten sich in meiner Bude dann die Kakerlaken darüber her.

                         Staatstheater, Danzig



Danzig und Umgebung schienen mittlerweile seifensteinfrei. Alle Lettlandfahrer hatten damit gehandelt. Aber Marianne hatte ihre Beziehungen. "Wenn du denkst, es gibt nichts mehr, kommt von irgendwo Seifenstein her !" Ihr Originalspruch war :"Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein arschtritt her !" Marianne war bibelfest.
In Riga gab es noch immer Berge von Butter und Speck in der Markthalle. Im Offizierskasino immer noch Nudeln mit Fleischklösschen.
Ein Zirkus war in der Stadt. Ich sah zum ersten Mal einen Weißclown. Wenn alle lachten, lachte ich mit. Ich verstand ja kein Lettisch.
Unser alter Käpt´n fehlte mir, und nicht nur mir an allen Ecken und Kanten. Sechs Wochen Urlaub waren vorgesehen. Weihnachten sollten wir ihn wieder haben. Doch erst mal bekamen wir wieder einen neuen Ersatzkapitän. Wieder von der "Union". Ich war wieder Fremdkörper, da mir der Unionsstallgeruch fehlte. Ich hätte verzweifeln können, wenn Hans nicht gewesen wäre. Die Alhambra wurde für uns tabu. Die neue Mittschiffsgang hatte sich in unserer Hausbar fest gesetzt. Hans und mir blieb als Anlaufstelle nur die "Holzgasse 29". Durch Marianne hatten wir ein Ohr an unserer obersten Schiffsführung, interessant und lustig.

                                  
                                       St. Marien, Danzig

                                 


Freitag, 11. September 2015

DIE PISSPOTTBANDE





                         Danzig, Lange Brücke       oben: Frauengasse


Die Pisspottbande
Richtig lustig wurde es mit der Gründung der Pisspottbande im Hinterzimmer von Giselas Kneipe. Gottfrieds Bruder, Johannes, gründete sie. Gottfried schleppte mich mit. Gisela freute sich, mich "Bocher" wieder zu sehen. Es war ein elitärer Männerclub. Erster und einziger Satzungspunkt :"Keine Weiber." Wir waren meistens nur zu fünft. Johannes war Leutnant mit Ritterkreuz, und als Assistenzarzt im Danziger Krankenhaus tätig. Dadurch war er vom Militärdienst befreit. Die Hauptfigur war ein Leutnant vom Afrikakorps. Er hatte ein Bein gegen ein Ritterkreuz eingetauscht. Bald kam auch Hans Neuss dazu. Manchmal komplettierten diese Runde Wehrmachtsangehörige mit Turban, von der "Indischen Legion". Es war ein bunter Haufen. Wir hielten "Symposien" ab, auf denen sich Sokrates, Platon und Aristoteles unterhielten. Im Laufe der Abende gesellte sich auch Eros gern hinzu. Getrunken wurde aus einem Nachttopf. Wir hatten einen edlen aus Glas. "The Pot of Pi". Teilnahmebeitrag war jeweils eine Flasche mit geistigem Inhalt. Wir nahmen alles, da kriegsbedingt Mangel herrschte. Nur durch Beziehungen oder auf dem Schwarzmarkt kam man daran. Die Mischungen waren fürchterlich. Von A - Absinth bis Z - Zitonenlikör wurde alles akzeptiert. Das Edelste, "Danziger Goldwasser", oder "Stobbe´s Machandel" wurden mit "Heureka" bejubelt. Zwecks Trinkbarkeit wurde die Wissenschaft befragt. Der Arzt trat in Aktion. Er nahm eine Probe, dann der Befund :"Zu schwach!" Er langte in die Tasche und holte ein Fläschchen ( Wo ist man schliesslich tätig? ) reinen Alkohols hervor. Jetzt hatte die Mischung ärztlich verordnete Stärke. Zum Trinken brauchte man beide Hände und oft Hilfe seines Nachbarn, der einem die Nase zu hielt - Verdacht auf Äther.
Wenn es der Alkoholpegel noch zuliess, folgten wir, nach dem "Pisspottsymposium", den rufen Eros´ ins Danziger Nachtleben. Gottfried und Johannes, die beiden "Pastorentöchter" ( Ihr Vater war Pastor ), der "Wüstenfuchs", und ich waren die Standardbesetzung. Einige Etablissements legten Wert auf seriöses Publikum. Der einbeinige Wüstenfuchs mit Ritterkreuz war garantierter Türöffner. Auch die Turbanträger machten Eindruck. Bald sprach sich die Werbewirksamkeit unseres Kuriositätenkabinetts herum. Das bedeutete kostenlosen Getränkekonsum für uns. Gottfreid setzte sich dafür ans Klavier. "Wenn der weisse Flieder wieder blüht...". Ein Lied, das uns Gottfried auch einmal auf der Orgel, in der Kirche seines Vaters, zum Besten gab. Höhepunkte waren die "Dreigroschenoper", und Jazz. Dann gab es kein Halten mehr. Es erinnerte mich an Paul auf der "Bremerhaven", der auf seiner Mundharmonika Ähnliches drauf hatte.
Wieder einmal standen wir vor einer verschlossenen Tür. Die Damen tuschelten, glaubten in mir den Schauspieler Karl Holt, zu erkennen. Wir widersprachen nicht, und wurden herein gebeten. Nur Autogramme verweigerte ich beharrlich. "Ich bin in...äh, in...?" Gottfried :"Er ist inkognito." Das schien den Reiz nur noch zu erhöhen.

DANZIG - RIGA TEIL 1

Unser Kurier, der Soldat, fuhr uns ein letztes Mal zum Bahnhof. Karl auf der Quetsche, der Bäcker Paul mit der Mundharmonika :"Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, bleib´nicht so lange fort..." Der Rest machte an Deck "Winke, Winke". Der Abschied von den "Pomuchelsköppen", wie sich die Pommern nach ihrem Wappenfisch, dem Dorsch, nannten, fiel nicht leicht. Hans und ich fuhren einer neuen Zukunft entgegen.



Ankunft in Danzig
Die "Brake" von der "Union" lag in Neufahrwasser, im Hafenkanal an der Danziger Bucht, gegenüber dem ehemaligen Fort der Polen, der "Westerplatte". Hier, am 1. September 1939, hatte alles mit dem Beschuss, durch das deutsche Kriegsschiff "Schleswig - Holstein", begonnen.


Hafeneinfahrt Neufahrwasser, rechts die Westerplatte (Aus: Danzig und seine
Ostseebäder)

Danzig empfing uns mit einem milden Sommertag. Auf der "Brake" herrschte hektisches Treiben. Sie war für die Passagierfahrt her gerichtet worden, und die letzten Tage der Ausrüstung brachte alle auf Trab. Ich wurde unsanft aus beschaulicher Pölitzer Ruhe gerissen. Das fing ja gut an!
In die Luken 1 und 2 hatte man mit Holzwänden Kabinen, bessere Verschläge, eingebaut. Vieles war vom Schiffszimmermann mit Bordmitteln errichtet worden, worauf er sehr stolz war. Die Kabinen hatten naturlich keine Bullaugen. Zwecks Lüftung hatte man einfach die Decken weg gelassen. Darauf musste man Ehepaare besonders hinweisen.


 
                          Die "Brake"


Von der Mannschaft war mir niemand bekannt. Der Bootsmann, scheinbar ein ganz
 Lustiger, schaute kurz beim Auspacken zu. Ein Kollege stellte sich als Gottfried vor. Er hatte seine Segelschiffzeit schon hinter sich. Gottfried war landfein. "Komm´mit!" Neugierig, wie ich war, liess ich mir das nicht zwei Mal sagen. Mit der Strassenbahn, der Linie 8, mit der wir gerade gekommen waren, ging es wieder zurück. Oft würde ich diese Tour noch machen. Es war schönstes Wetter, Frieden, die Strassen waren bevölkert und Danzig war deutsch. Gottfrieds Ziel war eine urige Kneipe, mit einer entzückenden Wirtin, Gisela. Mich von oben bis unten musternd, fragte sie :"Wo hast du denn diesen Bocher her?" Kleider machen Leute. Mit meinem amerikanischen Second Hand - Anzug, meinem "Borsalino", und den italienischen Schuhen, konnte ich nur ein vornehmer Jüngling aus der besseren Gesellschaft sein. Das Gegenteil vom "Bocher" war der "Danziger Bowke". Darunter gab es nur noch eine Schicht, die "Danziger Sackträger". Die lernte ich schon am nächsten Tag kennen. Ein Frachtschiff lag achteraus mit Mehl. Den ganzen Tag pendelten die Träger, auf dem Buckel einen Zweizentnersack, vom Schiff zum Getreidespeicher. Auch für mich, in Pölitz von der Arbeit entwöhnt, war "Schluss mit lustig". Hafenarbeiter waren knapp. Ich stand seit Langem mal wieder an der Winsch. Auch die "Brake" war, im Gegensatz zur "Bremerhaven", unterbesetzt. Hans hatte dafür eine Erklärung. Die "Bremerhaven" wurde mit der Mannschaft, als Wohnschiff  voll vom Staat bezahlt. Während die "Brake Geld einbringen musste.

                              Danziger Sackträger (Aus: "Einst in Danzig")


                    
Rechts der Getreidespeicher (Aus: "Danzig und seine Ostseebäder")


Noch machte mir das hektische Treiben Spass, später sehnte ich mich oft ins beschauliche Pölitz zurück. Wir beschäftigten uns einige Tage mit den Rettungsbooten. Sicherheit war im Krieg noch wichtiger als sonst. Seemännische Arbeit, lang wars her, war wieder gefragt. Neue Manntaue, im Ernstfall hangelt man sich damit ins Boot, mussten gespleisst werden. Dann verlangten die Blöcke auf dem alten Kasten, sogenannte "Taljen", mit denen die Boote zu Wasser gelassen werden, nach Schmiere, und mussten mit neuem Tauwerk bestückt werden. Die Wassertanks wurden befüllt und die luftdichten Zinkkästen mit frischem Schiffszwiback gefüllt. Dabei fiel mir Pölitz ein. Dort hatten wir uns oft, wegen der saumässigen Verpflegung, an die Zwiebäcke in den Rettungsbooten gemacht. Das war streng verboten, aber wohl verzeihlich. Die "Bremerhaven" lag schliesslich fest vertäut in der Oder. Die alten Dinger schmeckten abscheulich, waren aber nicht, wie oft auf alten Seglern voller Maden. Wie heisst es in einem Shanty so schön :"De Beschüten lepen von alleen wech." Beschüten sind Zwieback, und die Maden machten ihn lebendig.Noch waren wir nicht klar zum Auslaufen, und immer war mal einer verschwunden. Hundert Meter entfernt lag eine Namen lose Kneipe, die wir "Petroleumquelle" nannten, unter der Regie einer resoluten Wirtin, spanischen Geblüts mit beachtlichem Umfang. Unser Bootsmann stand später in Verdacht, sein Bier nicht bezahlen zu müssen. Er nannte sie liebevoll  :"Meine mujer".


Unser Liegeplatz (Aus: "Danzig und seine Ostseebäder)

Während der Arbeit an den Booten, sah ich zum ersten mal unseren "Alten". Er fragte mich ein Loch in den Bauch nach meinem Werdegang. Es stellte sich heraus ,dass wir beide als Einzige auf dem Schiff den Blockadebrecherorden hatten. Wir unterhielten oft darüber. Ich hatte meinen ja von der Bremenfahrt, er hatte ihn für eine navigatorische Glanzleistung erhalten. Bei Kriegsausbruch er mit der "Brake" in Vigo in Spanien ein gelaufen. Im Oktober ´39 kam ein Befehl des Reichsverkehrsministerium :"Auslaufen, Kurs Heimat!" Ein Befehl, von dem die in Berlin nicht wussten, was das bedeutete. Aber Befehl war Befehl. Südlich von Island gelang der "Brake", unter norwegischer Flagge der Durchbruch. Die "Brake", und die "Bremerhaven", waren alte englische Pötte. Es lohnte sich für die Engländer nicht, so der Kapitän, uns auf zu bringen. Vor Norwegen ging es dann, ohne Lotse, durch die Schären Kristianssund. Das war eine reife seemännische Leistung.
Die "Brake" war das erste Schiff, auf dem ich eine fundierte Ausbildung erlebte. Der Kapitän legte viel Wert darauf. Die jungen Leute von der Steuermannsschule mussten, auch im Hafen, mittags die Sonne schiessen. Auch wir zukünftigen Steuermannsschüler mussten ran. Man durfte sich nicht, beim von Bord gehen, erwischen lassen. Erst mussten wir an den Kartentisch, um "Brüster Ort" zu umschiffen. "Das ist unser "Kap Hoorn", sagte er. Wir sollten noch merken, dass es oft nicht leicht war,  die "Ecke" an der Bernsteinküste zu umschiffen. Häufig waren, wegen Fliegeralarm, alle Feuer gelöscht. Auch den Bootsmann, und für mich besonders Hans Neuss, muss ich in Sachen Ausbildung lobend erwähnen. Mit dem II. hatte ich wieder mal die 12 -4 Wache. Herrliche Sommernächte erlebten wir, beim Schippern entlang der Ostseeküste. Der Wind vom Land war voller Duft nach Gras und Heu. Man vergass, das Krieg war. Der dritte Mann auf unserer Wache war  Jerzy, ein eingedeutschter Pole mit vielen sz, cz im Nachnamen. Er sprach ausgezeichnet Deutsch und überraschte uns immer wieder mit seinem enormen Wissen. Er wartete auf das Kriegsende - Weihnachten bestimmt - , um nach Polen zurück zu gehen. Alle wussten mit Sicherheit, das der Krieg dann beendet wäre. Oder war es bloss Hoffnung? Nach Weihnachten hiess es dann :"Wenn der weisse Flieder wieder blüht...".
Die erste Reise sollte lieber vergessen werden. Es war keine seemännische Glanzleistung.
Pillau, der erste Hafen, hatte noch eine ziemlich problemlose Kaje. Unser Alter kannte seinen Kahn. Er hatte ihn aber nur selten ohne Schlepperhilfe an die Kaje gebracht.
Der nächste Hafen war Memel bei Nacht. Es bedurfte mehrerer Anläufe.
In Libau, wir hatten das erste Mal einen Lotsen, stand ich am Ruder. Die Einfahrt in den  Hafen war schmall. Links lagen die Hafenbecken. Das hinterste war das Ziel des Lotsen. Es gab Abstimmungsschwierigkeiten, da ich nur zwei sah, wir aber ins dritte, noch nicht einsehbare sollten, aber es ging noch gut. Der Alte :"Lass´das Denken sein", und seiner ewiger Spruch :"Der Seemann an Bord, das bin ich." Der war bei der Kurverei wohl fehl am Platz.
Der Törn nach Riga war der längste, und brachte Ruhe ins Schiff. Es wurde später, nach den drei kurz aufeinander folgenden Häfen, unser Erholungstörn. Nach Libau folgte eine lange Revierfahrt auf der Düna, lettisch "Daugav". In Riga wurde uns endlich Schlepperhilfe angeboten. Er war etwas maschinenschwach, eignete sich nur zum Leinen verholen. Später kam er nicht mehr wieder. Unsere Probleme, ohne Schlepper einzulaufen währten nicht lange. Wir bekamen das bald in Griff.





Ich kam mit Wihelm Willems an die Vorspring. Er war ein alter Hase mit kleinem Patent und jetzt, wie ich, Offiziersanwärter. Bald wussten wir, wir sind, als Team für die Spring, wie geschaffen. Die Vorspring, ein Festmacherdraht, ist für ein Schiff die einzige Bremse. Als erster Draht, an Land fest gemacht,achterlich nach hinten aus gerichtet, nimmt er die Fahrt vom Schiff. Es sollte aber nicht mehr zu viel Fahrt auf dem Schiff sein. Wir haben damit Abenteuerliches erlebt. Manchmal war der Draht bis zum Zerreissen gespannt. Wir hielten fest. Der Alte auf der Brücke zitterte um seinen Draht. "Der Seemann an Bord, dass bin ich." Doch Wilhelm schwor darauf :" Gute alte englische Arbeit". In Libau kam unser unersätzlicher Draht einmal in grosse Gefahr. Nach dem Ablegen, das Schiff machte schon Fahrt, hakte der Draht unter Wasser fest. Er lief, war nicht mehr zu halten. Bald würde er zu Ende sein. Von der Brücke kam der Rat :"Lass´laufen, der Seemann an Bord, dass bin ich!" Aber wir schmissen mit letzter Verzweiflung das eingspleisste Auge über einen Poller. Die "Brake", kein kleines Schiff, verneigte sich respektvoll vor der Kaje. Der Draht war frei. "Der Seemann an Bord, dass bin ich!"


Blick vom Dominikswall in Richtung Kohlenmarkt, hinten: Stockturm und St. Georgshalle
                                    (Aus: "Einst in Dresden")


Die geringe Mannschaftsstärke macht sich überall an Bord bemerkbar. Wir waren neben dem II. Hans Neuss nur nur Zwei auf der Wache. Jerzy, ein Leichtmatrose und ich.
Oft musste der II. das Ruder übernehmen. Wir waren fast rund um die Uhr im Einsatz, Im Ausguck, auf dem Peildeck, oder auf der Back. Die kurz auf einander folgenden Häfen hielten alle Decksleute auf Trab. Nach den ganzen An- und Ablegemannövern folgte häufig gleich im Anschluss die reguläre Wache. Ausserdem gab es auch noch oft Alarm. Ich war ewig müde. Das nächste Mal in Danzig würde ich einmal richtig ausschlafen. Ein frommer Wunsch! Das Danziger Nachtleben, noch friedenszeitmässig, fand mich in der "Eulenbar", Musik, Tanz und Danziger Goldwasser. Ich traf Bremerhavener Fischleute - es wurde nur noch in der Ostsee gefischt - und erfuhr das Neueste aus der Heimat.


                                       Krantor, Danzig


                                      Milchkannentor, Danzig