Sonntag, 3. Januar 2016

GEFÄNGNISJAHRE



Noch zwanzig Kilometer mit dem Zug, dann war ich am Ziel. Ich kam ins Dieburger Gefängnis. 
Ich wurde vom höchsten Beamten persönlich empfangen. Er half mir beim Strohsack stopfen, was mir noch unbekannt war. Ich war der einzige unserer "Reisegesellschaft", der hier landete.
Nach der Einkleidung, ich trug jetzt Holz- , statt italienischer Schuhe, kam ich in einen Saal. Die anderen Insassen waren nicht wie üblich kahl geschoren. Es waren alles Handwerker: Tischler, Maurer, Zimmerleute und vieles mehr.

Heute weiss ich, dass 1938 aus dem Darmstädter Gefängnis Handwerker in die vorher vom Reichsarbeitsdienst genutzen Gebäude verlegt wurden. Sie richteten es her. Es wurde das Stammlager I. der Gefangenenlager Rodgau. (Siehe "Das Lager Rollwald" von Heidi Fogel). Die Insassen fertigten dann im Hof Baracken für das Lager Rollwald.

Man erwartete natürlich einen weiteren Handwerker. Wunderte sich dann, dass es ein Seemann war, auch nicht kahlgeschoren. Dass ich dort gelandet war, stellte sich noch als großes Glück heraus. Sie waren die Privilegierten im Knast. Sie hatten vieles, was andere Häftlinge nicht hatten, und was auch den Beamten im Zivilleben durch den Mangel fehlte.
Ein Mithäftling, der sah, wie ausgehungert ich war, langte auf seinen Spind und gab mir eine Schüssel Nudeln mit Milch, aus Milchpulver, die er dort für den Abend deponiert hatte. Eine Köstlichkeit für mich!
Die Wachmannschaft trug blaue oder grüne Uniformen. Es waren normale Justizbeamte. SS - Schergen gab es nicht.
Ich wurde kein Handwerker, wurde aber mit eingesetzt, um Spargelbeete für die Beamten anzulegen, oder Splitterbunker zu bauen. Es hätten auch Friedenszeiten sein können, wären nicht die Bomber der Allierten gewesen,die in grosser Höhe über uns weg flogen, und meine Arbeit auf "Komando".             

Auf "Kommando"
Ich musste, weil kein Handwerker, mit anderen Insassen des Gefängnisses auf "Kommando" gehen. Das waren Arbeiten ausserhalb, z. B. bei der Munitionsanstalt, der Luftwaffe, kurz "Muni". Morgens ging es mit dem Bus hin. Dann mussten wir den ganzen Tag Granaten (8,8) und Röhrenpulver aus Bunkern zur Produktionsstätte schaffen. Die Leitung hatten ein freundlicher Luftwaffenunteroffizier und ein nicht mehr kriegsverwendungsfähiger Luftwaffensoldat. Es war für die Umstände richtig gemütlich. Die Muni lag im Wald; die reinste Erholung! Ich glaube, keiner dachte ans "türmen". Wo wollte man im Krieg auch hin. Wir hatten es ja gut. Auch hier galt der Spruch :"Geniesse den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!" In der Granatenproduktion waren nur Frauen beschäftigt, "Im Dienste des Führers!" Manche schenkten schon mal ein Lächeln, oder eine Zigarette. Man war dankbar für jedes freundliche Wort, für jede nette Geste. Nur das Abladen unbrauchbarer Kaliber (UK), die von der Front zurück kamen, war unheimlich. Sie waren schon in den Kanonen gewesen und hatten nicht gezündet. Wir behandelten sie, wie rohe Eier. Es war eine sehr gefährliche Arbeit.
Beim Kommando Reichsbahn im Ausbesserungswerk in Darmstadt - Kranichstein (heute Museum) war Schwerarbeit angesagt.
Wir mussten Kohle für die Loks entladen, Loks bewässern und den Sott entfernen. Der wurde, soweit ich verstanden habe, von den Winzern der Region in den Weinbergen ausgestreut. Zündete man ihn an, glühte er vor sich und schützte die Reben vor Frost. (Vielleicht lacht jetzt jemand, der etwas davon versteht).
Am schwersten war der Gleisbau. Jede Schwelle, jede Schiene wurde einzeln mit bloßer Körperkraft verlegt. Standardsteine mussten mit schweren Hämmern ins Gleisbett ein gearbeitet werden (stopfen). Mit der Wasserwaage wurde nachgemessen. Bei zuviel Höhe wurden Steine auf die Schiene gelegt. Die Arbeit des Hammers übernahm dann der nächste Zug, der darüber rollte. Eine Weiche einzubauen, erforderte Spezialkenntnisse. Auch die Hemmschuhleger waren Spezialisten. Die Waggons wurden von einem Ablaufberg auf die Gleise ihrer Bestimmungsorte geleitet. Mit dem Hemmschuh wurden sie rechtzeitig vor Zugende abgebremst. Wurde zu früh gebremst, musste geschoben werden. Zu spätes Bremsen konnte gefährlich werden. Der Waggon knallte dann mit voller Wucht auf den nächsten. Bei Kartoffelladungen "passierte" uns das sonderbarer Weise öfter. Sofort waren hungernde Menschen da, und sammelten die herunter gefallenen Kartoffeln auf. Zum Ankuppeln stand man zwischen den Puffern. Sie schützten einen zwar, trotzdem war es ein unangehnemes Gefühl. Meine Kollegen am Hemmschuh waren französische Fremdarbeiter. Sie waren höflich und freundlich, aber Kontakt mit uns "Verbrechern" war eigentlich streng untersagt. Aber das nahm keiner so genau. Beim Frühstück saßen wir zusammen. Ein Butterbrot fiel immer mal für uns ab. Ich rauchte nicht mehr seit dem Danziger Knast. Aber von den anderen hörte ich :"Donne moi une Cigarette." Die Franzosen rauchten ein schwarzes Kraut. Wenn ich mich recht erinnere :"Caporal". Von ihnen hörte ich, dass sie nicht so recht an den Endsieg der Deutschen glaubten. Ich wusste von nichts. Mir war es auch Wurscht!
Aufregung machte sich breit,wenn es mal eine Sonderzuteilung gab. Tabak! Ich war Mangels Gelegenheit zum Nichtraucher geworden, aber als Tauschobjekt war er zu gebrauchen. Wir bekamen zwar für unsere Arbeit Geld gut geschrieben, konnten damit aber im Lager nichts kaufen. Auch unsere privelegierten Handwerker zeigten kein besonderes Interesse. Sie hatten ihre Quellen, zumal der Tabak nur aus den gehackten Blattrippen bestand. Beliebter war Priem (Kautabak).

Die Beschäftigungen waren vielfältig. Wir mussten Viehwaggons umrüsten für den Pferdetransport (Pferde bekamen es komfortabler), und für den Personenverkehr. Es kamen Bänke und ein Kanonenofen hinein. In die Schiebetür wurde ein vorgefertigtes Fenster, dass vom Boden bis zur Decke reichte, eingeklemmt. Aussen dran ein Schild: "40 Mann". Am Tender ein sinniger Spruch: Räder müssen rollen für den Sieg. Alles für den Endsieg.
"Gute Reise".

Eines Tages saß ein mir unbekannter Häftling zusammen gesunken auf einem Stuhl im Schlafsaal und weinte bitterlich. Ich sehe das Bild noch heute vor mir. Es hiess :"Er geht auf Transport, nach Dachau. Er wurde enttarnt : Ein Jude! Für so einen ist ein Arbeitslager wie Dieburg zu schade."
Es dauerte, bis ich aus den Gesprächen der Mithäftlinge heraus hörte, was das bedeutete. Ich war ja völlig ahnungslos, was in meinem Heimatland geschah.. Die meisten waren nicht sehr mitteilsam. Ich erfuhr immer nur Bruchstücke. Die "Moorsoldaten" aus den Lagern im Emsland und Ostfriesland schilderten schreckliche Erlebnisse. Oft sangen sie : "Und wir gehen mit dem Spaten ins Moor, ins Moor." Ein Kölner erzählte etwas von einer "Weißen Rose".
Es waren Männer aus allen Ecken des Reiches im Saal. "Guppi", war ein Ursachse. Er kam beim Bombengraben (Nachtangriff auf Mannheim) elend ums Leben. Eine Brandbombe (Flüssiger Phosphor) konnte nicht gelöscht werden. Es waren auch Österreicher inhaftiert. Jetzt hiessen sie auf Befehl eines Landsmannes aus Braunau
"Ostmärker".

Kasinochef
Für mich gab es ein neues Kommando. Ich musste die Leitung und Bedienung im Beamtenkasino übernehmen. Was besseres konnte mir nicht passieren. Nebenan die Küche, im Keller die Heizung. Der Heizer war ein Landsmann aus Kiel. Mein Tag war lang. Morgens um vier Uhr wurde ich geweckt. Aus diesem Grund musste ich aus dem Handwerkersaal in eine Einzelzelle umziehen.
Am Tag gab es oft Pausen zwischen den Mahlzeiten der Beamten. Ich spielte häufig Schach mit meinem neuen Freund im Heizungskeller. Ihm ging es gut. Er bekam Besuch von einer Beamtin aus einem nahe gelegenen Frauengefängnis. Ich sah sie oft, bei ihren Besuchen im Kasino, im Keller verschwinden.

Innerhalb der Gefängnismauern konnte ich mich frei bewegen. Jeden Tag, pünktlich um zwölf Uhr ging ich mit einem Tablett über den Hof zum Chef, dem Oberregierungsrat, zwecks Prüfung des Gefangenenessens. Er kostete ein wenig und befand es immer für gut.
Es gab Kohl- und Steckrübensuppe ohne sättigende Fettaugen. Immerhin, uns, als "normalen Verbrechern" - eigentlich Kollegen von Himmler, Göbbels und co. - ging es gut, im Gegensatz zu den armen Menschen in den Arbeits-, und Vernichtungslagern.
Um 15 Uhr bekam die Sekretärin vom Chef ein Kännchen Kaffee, aus Sicherheitsgründen von aussen durch ein vergittertes Fenster gereicht.
Die Küchenbrigade fürs Kasino bestand zur Gänze aus Elsässern. Es war ihnen verboten, Französisch zu sprechen. Trotzdem schnappte ich einiges an französischen Worten auf. Da sich die Gelegenheit bot, kam ich leider wieder ans Rauchen, aber auch in den Genuss mancher mir unbekannter Delikatesse. "Wenn das der Führer wüsste!" Oder auch: "Geniesse den Krieg.....!"
Der Küchenaufseher war ein uriger Bayer. Die Kommunikation war schwierig. Die Köche waren alles Leute vom Fach. Doch bei der mageren Lebensmittelauswahl half ihr ganzes Können nichts. Stand Gulasch auf der Karte, gab es pro Beamten 50 Gramm Fleisch. Das waren vier Würfelchen pro Portion, die dann auch genau abgezählt auf die Teller kamen. Und wie durch Zauberei war für die Küchenleute und mich, auch immer eine Portion dabei übrig.
Ich half oft, machte Kartoffelbrei, oder putzte Gemüse. Es machte mir Spaß und ich lernte viel Neues.
Der Bayer liess sich oft ein Steak (Ohne Gewichtsbegrenzung) servieren. Dafür liess er uns weitgehend in Ruhe.

Der Krug ging wieder einmal an mir vorüber.
"Der Führer braucht mehr Soldaten!" Ein Gerücht ging um im Gefängnis. Tausende saßen im Knast, statt an der Front das Vaterland zu verteidigen. Und richtig, eine Musterungskommision erschien. Es hiess, die Frontbewährungsbataillone müssten
aufgefüllt werden. Auf dem Appellplatz war grosse Musterung. Ärzte, Militärs und ca. 600 stramm stehende Nackte, es war ein skuriles Bild. Die meisten hofften, genommen zu werden. Sie freuten sich auf die "Freiheit".
Meine Musterung war kurz: Rückgratverkrümmung! Wusste ich gar nicht. Ich war enttäuscht, hätte auch gern die Freiheit erlebt. Später war ich wieder einmal meinem Schutzengel dankbar, oder hatten sie nur nicht ihren "Kasinoheinz" los werden wollen?
Einer, er hiess Graf, der für tauglich befundenen wurde, kam später wieder. Er erstattete Bericht. Die "Freiheit" begann in einer Kaserne in "Stetten am kalten Markt". Von den Soldaten "Stetten am kalten Arsch" genannt. Es gab eine kurze Ausbildung. Dann wurden sie zur Befreiung der griechischen Inseln eingesetzt. Es soll erhebliche Verluste gegeben haben.

Das Radio
Die Chronologie aller Ereignisse habe ich nicht mehr im Kopf. Die meisten Tage liefen ohne besondere Vorkommnisse nach immer gleichem Schema ab. Der 20. Juni 1944 brachte aber wieder Aufregung. Es sprach sich herum: "Attentat auf den Führer!"
Dann die Information: "Der Führer lebt!"
Wir hatten im Kasino ein Radio. Keinen Volksempfänger, "Göbbelsschnauze" genannt, sondern ein richtiges, mit grosser Skala, auf der noch Beromünster und Hilversum standen. Das Radio war ein Tor zur Aussenwelt. Morgens, oft schon ab vier Uhr, Stellte ich es an, und wartete auf das "bum bum" der BBC. Dann klopfte ich an die Bürowand des französischen Küchenchefs. Er und mein Freund der Heizer kamen, so oft es ging, wenn vom Soldatensender Calais die Ansage kam :"Nachrichten zur vollen Stunde!" Es wurden Listen mit vermissten, oder gefallenen deutschen Soldaten verlesen, und es gab Frontberichte, die sich ganz anders anhörten, als die der deutschen Wehrmacht. Dazwischen lief deutsche, aktuelle Musik. Man sollte glauben, es sei ein deutscher Sender.
Diese Sender zu hören, war streng verboten. Es drohten schwere Strafen, bis hin zur Todesstrafe. Aber unsere Neugier war grösser, als die Angst. Mit dem Näherkommen der Fronten, hörten wir auch die Freiheit näher kommen.
Angespannt achtete ich darauf, wenn die ersten Beamten zum Frühstück kamen. Schnell schaltete ich das Radio aus. Eines Tages war ich nicht schnell genug. Ich wollte ausschalten, aber ein Beamter sagte :"Lass´ doch laufen, die schöne Musik. Es war kurz vor den Nachrichten. Ich war wie versteinert, als die Meldung kam, dass Hitler seit Stalingrad 150 Generäle entlassen habe. Es ging ein Geraune durchs Kasino, dann Totenstille. Bis einer meinte :"So etwas sagt doch kein deutscher Sender." Mir schlotterten die Knie. Fragen schwirrten durch den Raum :"Wer hat den Apparat ein geschaltet? Wer war heute der erste hier?" Das und vieles mehr, wollten sie von mir wissen. Es schnürte mir die Kehle zu. Aber seltsam, auf mich als Täter kam keiner. Schutzengel? Noch tagelang gab es Untersuchungen auf höchster Ebene. Ich konnte keinen ersten Früstücksgast nennen, und auf mich kam man ja nicht. So verlief alles im Sande. Ich konnte aufatmen. Wir liessen trotzdem nicht von unserer Informationsquelle ab, stellten aber eine Wache auf, die uns Gefahr meldete.
An einer Nachricht der BBC kann ich heute ein Datum festmachen. Es war der 18.9.44. "Angriff auf Bremerhaven durch Lancaster-Bomber!" Dort wohnten doch meine Grosseltern! Telefonieren konnte ich nicht. So blieb ich Wochen lang bis zum nächsten Brief aus der Heimat in grosser Sorge. Ihnen war nichts passiert.


So verging die Zeit, und für mich meistens angenehm. Durch die Elsässer kam ich in den Genuss meines  ersten Zwiebelkuchens, sogar Federweisser fehlte nicht - Saures Zeug! -
In den langen Pausen las ich mich durch die ganze Lagerbibliothek. Nach dem Krieg stellte ich fest, das sehr viele Bücher darunter gewesen waren, die auf dem Index standen oder 1938 längst hätten verbrannt sein sollen. So "plätscherte" das Lagerleben dahin, und ich plätscherte mit. Erst lange nach dem Krieg trafen mich meine, damals unterdrückten, Erinnerungen voller Wucht.

Draussen
Ich erfuhr, dass der 10.2.1945 mein Entlassungstermin sein würde. Sicher war ich mir aber nicht, dass ich raus käme. Es gab so etwas wie "Überhaft". Entlassungen sollten erst nach dem Endsieg erfolgen.
Doch ich kam raus. Ein Beamter brachte mich zum Zug. Sie wollten wohl sicher sein, dass ich wirklich abfuhr.


Ich recherchiere seit den achtziger Jahren Fakten zu meiner Verurteilung und meiner Haftzeit. Schriftliche Nachforschungen bei Archiven und Instituten waren ergebnislos. Ich fuhr nach Dieburg in die heute noch existierende Haftanstalt. Dort im Archiv fanden wir die unten abgebildeten Karteikarten. (Habe leider nur eine schlechte Kopie). Es sind die einzigen Unterlagen, die belegen, dass ich während des Krieges existiert habe. Vielleicht auch, da ich weder in Bremerhaven, noch in Kiel gemeldet war. Mein "Wohnsitz" war an Bord gewesen.




In Dieburg erfuhr ich auch, dass kurz nach meiner Entlassung eine Bombe aufs Grundstück der gegenüberliegenden Kirche fiel. Es war ein Sonntag, und soll etliche Opfer gefordert haben.
Beim Einmarsch der US-Truppen Anfang März ergab sich, so wurde mir erzählt, folgender Vorfall. In der Annahme, das Gefängnis sei ein Todeslager, rammte ein Panzerführer das Tor ein. Das nutzten die Insassen zur Flucht. Man klärte die Amis auf, dass es sich um einfache Kriminelle, und nicht um Gegner der Naziregimes handelte.
Diese Information ist für mich nicht ganz eindeutig. Es saßen zu meiner Zeit dort doch auch etliche politische Gefangene mit Überhaft.

Heimfahrt
Als ich 1943 verhaftet worden war, war es in Danzig friedlich gewesen. Der Krieg, die Fronten waren weit weg. Jetzt, 1945, kam ich in ein Chaos. Vom Rhein hörte ich Kanonendonner. Es fehlte jede Ordnung. Ab Darmstadt wusste ich nicht weiter. Fahrpläne existierten nicht. Ich wollte nach Kiel. Kurs Nord, mehr wusste ich nicht. Ein Fronturlauberzug - Wer hatte jetzt noch Urlaub? - fuhr in die Richtung. Ein alter Oberst als Kommandant, erlaubte mir die Mitfahrt. Eine Fahrkarte hatte keine Bedeutung. Ein Seemann muss doch an die Küste, um am Endsieg teilzunehmen. Der Zug war knüppelvoll. Zwei von der Militärpolizei drängelten sich durch die Menge. Ich fiel sofort auf. Was machte ein junger gesunder Zivilist in diesen Zeiten hier? Sie brüllten mich an :"Soldbuch!" Hatte ich nicht, wußte auch nicht wo es sich befand. Und i n meinem Seefahrtsbuch war der letzte Stempel von 1943, vom Tag meiner zwangsweisen Abmusterung. Jetzt brüllten sie den neben mir Stehenden an :"Soldbuch!" Dann :"Sie haften mir für den Mann!" Mein Nachbar war bei der Marine gewesen, jetzt aber bei der Luftwaffe. Er beruhigte mich :"Das klärt sich alles auf." Die Gefahr, in der ich war, wurde mir erst lange später bewusst. Man hätte mich wegen angeblichen Desertierens sofort standrechtlich erschiessen können. Zu der Zeit waren alle nervös. Jetzt war ich zwei Stunden nach meiner Entlassung, schon wieder verhaftet worden.
Irgendwo zwischen Frankfurt und Gießen hielt der Zug. Was war los? Gefahr? Wir sahen die Eisenbahner weg laufen. Auch wir verliessen in aller Eile den Zug. 1000 Soldaten und ein Zivilist, der seinen Bewacher verloren hatte, lagen an einem schönen Frühlingstag im Wald in Deckung. Der Zug blies von Zeit zu Zeit überschüssigen Dampf ab. Wir lagen dort etwa eine Stunde.
Sie kamen im Tiefflug. Vielleicht zehn Lightnings, diese "Doppelrümpfigen". Ich konnte die Piloten sehen. Sie beschossen nicht den Zug mit Bordwaffen, wie man annehmen könnte, sondern schmissen Kilobomben auf uns im Wald. Ich lag an einem dicken Baum. Durch die Erschütterungen konnte mich kaum am Boden halten. Ich glaubte, Hasen vorbei flitzen zu sehen. Es waren Bombensplitter, die über den Waldboden sausten. Auf was für Ideen man in seiner Angst kommt?
Der Spuk war schnell vorbei. Von Opfern hörte man nichts. Die Eisenbahner tauchten wieder auf. Ich suchte meinen Bewacher. Jemand sagte :"Hau ab!" In meiner Naivität dachte ich :"Warum?" Ich hatte nichts zu verbergen.
Meiner Erinnerung nach erreichte der Zug Giessen. Ich konnte mit dem Oberst die Sache klären, und bekam mein Seefahrtsbuch zurück.
Auf die Verpflegung am Bahnhof, Suppe aus Trockengemüse, verzichtete ich. Ich war besseres gewöhnt.

WAS WIRD MIT MIR GESCHEHEN ?

Unsere Deutschlandreise war kostenlos und einigermaßen komfortabel, mit Platzkarten und Einzelabteilen. Andere "reisten" zu der Zeit in Viehwaggons. Wir waren ca. ein Dutzend Mann. Die Fenster waren verklebt, wir hatten keine Kenntnis, wohin die Reise ging. Wie immer, war mein Zielort mal wieder geheim. Ich wusste auch nicht, wie das Urteil gelautet hatte. Der Galgen konnte es nicht sein, Den hätte es auch vor Ort in Danzig gegeben.

Unser erster Halt war Berlin. Wir wurden an langer Kette ausgeladen. Es war wohltuend, mal wieder auf einen freundlichen Polizisten zu treffen. Wir warteten lange auf dem Polizeirevier. Als ich trotz geringer Nahrungsaufnahme ein menschliches Bedürfnis verspürte, durfte ich aufs Beamtenklo. Es war angenehm sauber, nach all der Kübelbenutzung. Auf dem Gang hatte ich Gelegenheit, mir ein Butterbrotpaket irgend eines Beamten anzueignen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Auf der Toilette würgte ich das Brot in Windeseile in mich hinein. Die Nacht verbrachten wir in einem Saal mit ca. hundert Leuten. Es gab dreistöckige Holzbetten ohne Matrazen und Decken.

Die nächste Station war Leipzig. Hier waren Entlausung und Duschen dran. Später einmal, sah ich, dass die Duschen genau so aussahen, wie die in den Konzentrationslagern. Ich hatte Glück gehabt. Es kam nur Wasser raus. Die Kleidung kam zur Desinfektion in einen Dampfdruckkessel. Leider gab ich auch meine eleganten italienischen Schuhe mit hinein. Sie vertrugen die feuchte Hitze nicht. Ich reiste von da an meinem Ziel auf Socken entgegen.

Dann ging es nach Hof. Dort erhielt jeder ein Viertel eines mir unbekannten kleinen Brotes. Danke!

Der nächste Tag, es war der 7. Juli 1943, ein sonniger Sonntag, sah uns aneinander gekettetes Dutzend auf dem Darmstädter Bahnhof. Wir, alle zur Winterzeit verhaftet, in dicken Klamotten, ungepflegt, ich ohne Schuhe, erregten Aufmerksamkeit. Aus einer Gruppe elaganter Damen hörten wir :"Sieh´ mal, da laden sie Russen aus. Die sehen ja gar nicht so schrecklich aus." Die Frau hatte wohl das Bild der Russen aus den Propagandafilmen der "Wochenschau" vor Augen.



ZWEI KOFFER UND DAS ENDE DER OSTSEEZEIT


Meine blöde Gutmütigkeit
Dunkle Wolken brauten sich, noch unsichtbar, über mir zusammen. Man kann durch Zufall, diesem grossen Weltbeweger, zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Ich stand an der Gangway und wie sich später herausstellte, zur falschen Zeit am falschen Ort.
Zwei Männer tauchten auf und stellten die nicht ungewöhnliche Frage :"Wann laufen Sie aus?" "Morgen!" "Wir fahren mit." In der Passagierfahrt eine alltägliche Angelegenheit. Sie wollten, auch dagegen liess sich nichts sagen, ihr Gepäck schon da lassen.
Am nächstenTag beim Auslaufen waren zwar die Koffer an Bord, doch die dazu gehörigen Passagiere fehlten. Das war ungewöhnlich. Was tun? Erst einmal die Koffer kontrollieren.
Sie enthielten nur gewöhnliche Kleidung. Ich wusste nicht, ob ich nicht eigenmächtig gehandelt hatte, und schob die Koffer erst einmal unter meine Koje. Zurück in Danzig tauchten die verhinderten Passagiere wieder auf. Sie hätten das Schiff verpasst und könnten auch die nächste Tour nicht buchen. Sie faselten etwas von Scheidung, und ob die Koffer noch an Bord bleiben könnten. Was blieb mir übrig. Nach der nächsten Tour waren die Beiden wieder da. Sie schienen ihre Reisepläne aufgegeben zu haben und legten auf den Kofferinhalt keinen Wert mehr. Ob die Klamotten in Riga nicht zu verkaufen wären, sie bräuchten Geld? In Riga liesse sich alles verkaufen Ich wollte es versuchen. Im Gegenzug sollten sie mir Seifenstein besorgen. Hans war gerade Vater geworden und nahm mir die im Koffer enthaltenen Babysachen ab. Ein Pelzmantel mit Motten war nicht mehr brauchbar. Den Rest wurde ich auch noch bei der Besatzung los. Es kamen nicht mehr als 20 Reichsmark dabei heraus.

Ledermäntel und schwarze Uniformen
Die beiden Gestalten tauchten nicht mehr auf, dafür aber zwei Ledermäntel. Sie nahmen mich mit. Ich glaube, mein alter Kapitän hätte die Verhaftung nicht zugelassen. Hatte ich zu Recht ein schlechtes Gewissen wegen des Seifensteins gehabt?
Ab hier reisst oft der Erinnerungsfilm. Vieles, das mir erst später verständlich wurde, erkannte ich unter der körperlichen und seelischen Belastung damals nicht. Kein Datum, kein Tag, keine Nacht, nur Unverständliches. Ich war wie aus dem Leben gerissen und verstand die Welt nicht mehr.
Es sind in meiner Erinnerung nur Nebensächlichkeiten hängen geblieben. Z.B., dass bei meiner Verhaftung im Radio die "Fünfte" von Beethoven angesagt wurde.
In einem Büro im Danziger Gericht stand ich den mir aus Pölitz bekannten, schwarzen Uniformen gegenüber. Jetzt waren sie aber nicht mehr nett. Warum ich? Alle handelten doch mit Seifenstein. Mir gingen verworrene Gedanken durch den Kopf - Hatte ich etwas zu tun mit "Stalingrad"? Mit einem Radaunemörder? Während in mir die Angst hoch kroch, drehten sich darum die Gepräche der "Schwarzen". Einer kam aus einer Gerichtsverhandlung in Sachen "Radaune" und schimpfte :"Wie kann es angehen, dass im vierten Kriegsjahr der Gerichtssaal noch voll fauler Leute sitzt. Und das alles mit Stalingrad. Ich hätte am liebsten eingeteilt : Ihr da hin, ihr dort hin, zwanzig Mann zu Schichau!" Später wusste ich, die SS hätte die Macht dazu gehabt.
Schichau war die grosse Werft von Danzig. Nach dem Krieg landete sie, wie viele Flüchtlinge in Bremerhaven. Von Stalingrad hörte ich hier zum ersten Mal. Es war die Zeit der deutschen Niederlage in Stalingrad.
Der sogenannte "Radaunemörder", wie spätere Recherchen ergaben, hatte ein Mädchen getötet und in die Radaune, einem Nebenfluss der Weichsel geworfen. Er wurde an dem Tag vom Sondergericht zum Tode verurteilt. Das war am 10. Februar 1943. So erfuhr ich das genaue Datum meiner Verhaftung. Die Verhandlung hatte im erwürdigen Gerichtssaal stattgefunden, der zum "NS - Sondergericht" für Mörder, Hochverräter, und andere Feinde des deutschen Volks, umfunktioniert worden war.
Ich wurde zusammen mit ca. zwanzig Mann in einem Gitterkäfig mit einem Auto nach Stutthof, einem Lager ausserhalb von Danzig transportiert. Mein Gefühl von Hilflosigkeit wuchs. Kam keine Hilfe vom Schiff?
Wir landeten in einer Baracke, überwiegend belegt mit Polen. An Mahlzeiten und Waschgelegenheiten fehlt mir die Erinnerung. Nach Tagen, ich weiss nicht wie vielen, ging es zurück nach Danzig ins Polizeigefängnis. Ich kam in eine Einmannzelle, die mit zwölf Mann belegt war. Morgens bekam man von Wanzen zerstochen, die Augen kaum auf.

Von den Verhören ist nicht viel hängen geblieben. An einen Anwalt kann ich mich nicht erinnern. Soviel ich begriff, ging es gar nicht um den Seifenstein, sondern um die beiden Koffer und ihre beiden Besitzer. Mir ist nicht bewusst, ob ich die Männer wieder gesehen habe. Ihre Namen habe ich nie erfahren. Die Verhöre wechselten zwischen SS und Kripo. Ein Kripomann rettete mich vor Prügeln durch die SS. Seine Worte :"Das ist kein Jude", hielt sie von Schlägen ab. Daraus schloss ich, das mindestens eine der beiden dubiosen Gestalten ein untergetauchter Jude sein musste. das meiste blieb für mich im Dunkeln. Von der Aussenwelt bekamen wir in unserem Verlies auch nichts mit. Die Niederlage in Stalingrad fiel in die Zeit.

In der Schiessstange
Durch Verlegung in das Untersuchungsgefängnis in Danzig, "Schiessstange" genannt, war ich den Wanzen und der SS entronnen. Entlausung, duschen, frische Anstaltskleidung. Ein Paradies - man wird bescheiden. Der Hunger blieb. Die Zellen waren kriegsbedingt überbelegt. Die Türen waren beschriftet, damit die verschiedenen Straftäter nicht mit Gleichgesinnten zusammen saßen: Dissidenten, Untertaucher, usw. Mir alles unbekannte Worte. Für mich stand "gewerbsmässiger Hehler" dran. Die Koffer samt Inhalt mussten geklaut gewesen sein. Saß ich jetzt wegen lächerlicher 20 Reichsmark, oder wegen der angeblichen Verbindung zu untergetauchten Juden hier? Ich hatte unnötigerweise die ganze Zeit während unseres Seifensteinhandels ein fürchterlich schlechtes Gewissen gehabt. Es war gar nicht strafbar.
     Es gab nicht nur deutsche Mithäftlinge. Zeitweilig hatte ich Gesellschaft von drei Holländern der "Wapen-SS". Sie waren auf Transfer zum Militärgefängnis Torgau. Was hatten die wohl ausgefressen?
                       
                             "Wir leben mit den Träumen von Gestern!"

Die Anklageschrift
Auf dem ersten Blatt war eine Aufstellung der zehn Kriegssonderparagrafen. Nach den Ausführungen der nächsten Seiten würde wohl kein Hund mehr ein Stück Brot von mir genommen haben. Unterschrift: Wolff.
Meine Mitinsassen sagten :"Das ist das Sondergericht. Das bedeutet das Todesurteil." Mich berührte das gar nicht. Es ist unglaublich, aber mein Denken war so eingeschränkt, dass ich den Sinn nicht erfassen konnte. Doch verstand ich jetzt die Diskussionen der anderen. Sie erhofften sich eine Anklage vom Amtsgericht. Um als normale Verbrecher und nicht als politische zu gelten, bezichtigten sie sich erfundener Straftaten, um nicht vors Sondergericht zu müssen.

Wir wurden zu "kriegswichtigen" Arbeiten heran gezogen. Vogelfedern nach Länge sortieren, wofür? Kartoffelschälen war ein Privileg. Man saß mit rund zwanzig Leuten zusammen und konnte reden. Aufsicht hatte ein polnischer Häftling. Weil zweisprachig, stand er im Verdacht, ein Spitzel der Obrigkeit zu sein. Ich hatte nichts zu verbergen. Die anderen flüsterten miteinander. Ausländer mussten deutsch sprechen. Von unserem Aufseher wurde als "Alfons" gesprochen. Ich dachte, es sei sein Name und sprach ihn damit an.
Überrascht war ich, als er böse reagierte. Man klärte mich auf. Was im deutschen ein "Lui" war, nämlich ein Zuhälter, war im polnischen "Alfons". Man lernt nie aus.
Ein Sonderauftrag war die Arbeit an der Kartoffelmiete. Eingeteilt wurden nur Leute von Alfons Gnaden. Man saß in der schon lange vermissten, ersten Frühlingssonne des Mais und entkeimte Kartoffeln. Keime, jahreszeitenbedingt, zehn Zentimeter und länger. Die Natur fordert ihr Recht. Zum schälen waren die Kartoffeln eigentlich schon viel zu schwammig. Abnehmer waren die Danziger Hotels. Wir waren immer hungrig, aber rohe Kartoffeln waren ungeniessbar. Wie kamen wir an Essbares? Täglich brachte ein Bäcker mit einem "Knacki" als Hilfe, eine Trage mit Brot an uns vorbei in den Vorratsraum. Der Duft von frischem Brot erhöhte unsere kriminelle Intelligenz. Der Weg des Brotes führte an einem Besenschrank vorbei. Er war nicht, wie alle anderen Türen im Gefängniss, verschlossen. Wir warteten, bis einer aus unserer Zelle hinten an der Trage war. Ich versteckte mich im Schrank und schnappte mir einen Laib Brot. Vor dem Bauch, unter der Jacke, schmuggelte ich die Beute in unsere Zelle. Drei Ausgehungerte machten sich darüber her. Zum Sattwerden reichte es nicht, aber für fürchterliche Bauchschmerzen. Wir saßen stöhnend und schwer atmend in den Ecken. Sägemehl ist schwer verdaulich.
So bin ich doch noch zum Dieb geworden, nur die Reihenfolge stimmte nicht: erst Knast, dann Dieb.

Das Urteil
Im tristen Gefängnishof, wo wir die Kartoffeln entkeimten, blühte ein weisser Flieder. Flieder gehörte schon immer und gehört heute noch zu meinem Geburtstag. Am 21. Mai 1943 fällte im ehrwürdigen Danziger Gerichtssaal, zwei Tage nach meinem Geburtstag, das Sondergericht das Urteil. Kein klarer Gedanke drang in mein Gehirn. Nur Bruchteile brannten sich unauslöschlich ein.
Der Saal war voller Zuhörer. Kommt gleich die Einteilung nach Schichauwerft?
Warum sprachen die soviel vom Mond?  Hatte der Mond geschienen? Wurde heimtückisch die Verdunklung ausgenutzt? Von Seifenstein war nicht die Rede. Sie wälzten Tabellen. Ob mit oder ohne Mond, der Strang wartete. Wie das Urteil genau ausfiel? Ich weiß es nicht. Die Blockade im Kopf war total. In einer Verhandlungspause, in einer Zelle, las ich einen Spruch, den ein Vorgänger in die Holzvertäfelung geritzt hatte :"Jehova wird die einst die Tränen von deinen Augen wischen." Ich wusste nicht, wer Jehova war. Ein Trost aber, dass es jemanden gab, der Tränen von den Augen wischte.

Eintrag ins Logbuch : Ende der Seereise 10. Februar 1943