Sonntag, 3. Januar 2016

ZWEI KOFFER UND DAS ENDE DER OSTSEEZEIT


Meine blöde Gutmütigkeit
Dunkle Wolken brauten sich, noch unsichtbar, über mir zusammen. Man kann durch Zufall, diesem grossen Weltbeweger, zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Ich stand an der Gangway und wie sich später herausstellte, zur falschen Zeit am falschen Ort.
Zwei Männer tauchten auf und stellten die nicht ungewöhnliche Frage :"Wann laufen Sie aus?" "Morgen!" "Wir fahren mit." In der Passagierfahrt eine alltägliche Angelegenheit. Sie wollten, auch dagegen liess sich nichts sagen, ihr Gepäck schon da lassen.
Am nächstenTag beim Auslaufen waren zwar die Koffer an Bord, doch die dazu gehörigen Passagiere fehlten. Das war ungewöhnlich. Was tun? Erst einmal die Koffer kontrollieren.
Sie enthielten nur gewöhnliche Kleidung. Ich wusste nicht, ob ich nicht eigenmächtig gehandelt hatte, und schob die Koffer erst einmal unter meine Koje. Zurück in Danzig tauchten die verhinderten Passagiere wieder auf. Sie hätten das Schiff verpasst und könnten auch die nächste Tour nicht buchen. Sie faselten etwas von Scheidung, und ob die Koffer noch an Bord bleiben könnten. Was blieb mir übrig. Nach der nächsten Tour waren die Beiden wieder da. Sie schienen ihre Reisepläne aufgegeben zu haben und legten auf den Kofferinhalt keinen Wert mehr. Ob die Klamotten in Riga nicht zu verkaufen wären, sie bräuchten Geld? In Riga liesse sich alles verkaufen Ich wollte es versuchen. Im Gegenzug sollten sie mir Seifenstein besorgen. Hans war gerade Vater geworden und nahm mir die im Koffer enthaltenen Babysachen ab. Ein Pelzmantel mit Motten war nicht mehr brauchbar. Den Rest wurde ich auch noch bei der Besatzung los. Es kamen nicht mehr als 20 Reichsmark dabei heraus.

Ledermäntel und schwarze Uniformen
Die beiden Gestalten tauchten nicht mehr auf, dafür aber zwei Ledermäntel. Sie nahmen mich mit. Ich glaube, mein alter Kapitän hätte die Verhaftung nicht zugelassen. Hatte ich zu Recht ein schlechtes Gewissen wegen des Seifensteins gehabt?
Ab hier reisst oft der Erinnerungsfilm. Vieles, das mir erst später verständlich wurde, erkannte ich unter der körperlichen und seelischen Belastung damals nicht. Kein Datum, kein Tag, keine Nacht, nur Unverständliches. Ich war wie aus dem Leben gerissen und verstand die Welt nicht mehr.
Es sind in meiner Erinnerung nur Nebensächlichkeiten hängen geblieben. Z.B., dass bei meiner Verhaftung im Radio die "Fünfte" von Beethoven angesagt wurde.
In einem Büro im Danziger Gericht stand ich den mir aus Pölitz bekannten, schwarzen Uniformen gegenüber. Jetzt waren sie aber nicht mehr nett. Warum ich? Alle handelten doch mit Seifenstein. Mir gingen verworrene Gedanken durch den Kopf - Hatte ich etwas zu tun mit "Stalingrad"? Mit einem Radaunemörder? Während in mir die Angst hoch kroch, drehten sich darum die Gepräche der "Schwarzen". Einer kam aus einer Gerichtsverhandlung in Sachen "Radaune" und schimpfte :"Wie kann es angehen, dass im vierten Kriegsjahr der Gerichtssaal noch voll fauler Leute sitzt. Und das alles mit Stalingrad. Ich hätte am liebsten eingeteilt : Ihr da hin, ihr dort hin, zwanzig Mann zu Schichau!" Später wusste ich, die SS hätte die Macht dazu gehabt.
Schichau war die grosse Werft von Danzig. Nach dem Krieg landete sie, wie viele Flüchtlinge in Bremerhaven. Von Stalingrad hörte ich hier zum ersten Mal. Es war die Zeit der deutschen Niederlage in Stalingrad.
Der sogenannte "Radaunemörder", wie spätere Recherchen ergaben, hatte ein Mädchen getötet und in die Radaune, einem Nebenfluss der Weichsel geworfen. Er wurde an dem Tag vom Sondergericht zum Tode verurteilt. Das war am 10. Februar 1943. So erfuhr ich das genaue Datum meiner Verhaftung. Die Verhandlung hatte im erwürdigen Gerichtssaal stattgefunden, der zum "NS - Sondergericht" für Mörder, Hochverräter, und andere Feinde des deutschen Volks, umfunktioniert worden war.
Ich wurde zusammen mit ca. zwanzig Mann in einem Gitterkäfig mit einem Auto nach Stutthof, einem Lager ausserhalb von Danzig transportiert. Mein Gefühl von Hilflosigkeit wuchs. Kam keine Hilfe vom Schiff?
Wir landeten in einer Baracke, überwiegend belegt mit Polen. An Mahlzeiten und Waschgelegenheiten fehlt mir die Erinnerung. Nach Tagen, ich weiss nicht wie vielen, ging es zurück nach Danzig ins Polizeigefängnis. Ich kam in eine Einmannzelle, die mit zwölf Mann belegt war. Morgens bekam man von Wanzen zerstochen, die Augen kaum auf.

Von den Verhören ist nicht viel hängen geblieben. An einen Anwalt kann ich mich nicht erinnern. Soviel ich begriff, ging es gar nicht um den Seifenstein, sondern um die beiden Koffer und ihre beiden Besitzer. Mir ist nicht bewusst, ob ich die Männer wieder gesehen habe. Ihre Namen habe ich nie erfahren. Die Verhöre wechselten zwischen SS und Kripo. Ein Kripomann rettete mich vor Prügeln durch die SS. Seine Worte :"Das ist kein Jude", hielt sie von Schlägen ab. Daraus schloss ich, das mindestens eine der beiden dubiosen Gestalten ein untergetauchter Jude sein musste. das meiste blieb für mich im Dunkeln. Von der Aussenwelt bekamen wir in unserem Verlies auch nichts mit. Die Niederlage in Stalingrad fiel in die Zeit.

In der Schiessstange
Durch Verlegung in das Untersuchungsgefängnis in Danzig, "Schiessstange" genannt, war ich den Wanzen und der SS entronnen. Entlausung, duschen, frische Anstaltskleidung. Ein Paradies - man wird bescheiden. Der Hunger blieb. Die Zellen waren kriegsbedingt überbelegt. Die Türen waren beschriftet, damit die verschiedenen Straftäter nicht mit Gleichgesinnten zusammen saßen: Dissidenten, Untertaucher, usw. Mir alles unbekannte Worte. Für mich stand "gewerbsmässiger Hehler" dran. Die Koffer samt Inhalt mussten geklaut gewesen sein. Saß ich jetzt wegen lächerlicher 20 Reichsmark, oder wegen der angeblichen Verbindung zu untergetauchten Juden hier? Ich hatte unnötigerweise die ganze Zeit während unseres Seifensteinhandels ein fürchterlich schlechtes Gewissen gehabt. Es war gar nicht strafbar.
     Es gab nicht nur deutsche Mithäftlinge. Zeitweilig hatte ich Gesellschaft von drei Holländern der "Wapen-SS". Sie waren auf Transfer zum Militärgefängnis Torgau. Was hatten die wohl ausgefressen?
                       
                             "Wir leben mit den Träumen von Gestern!"

Die Anklageschrift
Auf dem ersten Blatt war eine Aufstellung der zehn Kriegssonderparagrafen. Nach den Ausführungen der nächsten Seiten würde wohl kein Hund mehr ein Stück Brot von mir genommen haben. Unterschrift: Wolff.
Meine Mitinsassen sagten :"Das ist das Sondergericht. Das bedeutet das Todesurteil." Mich berührte das gar nicht. Es ist unglaublich, aber mein Denken war so eingeschränkt, dass ich den Sinn nicht erfassen konnte. Doch verstand ich jetzt die Diskussionen der anderen. Sie erhofften sich eine Anklage vom Amtsgericht. Um als normale Verbrecher und nicht als politische zu gelten, bezichtigten sie sich erfundener Straftaten, um nicht vors Sondergericht zu müssen.

Wir wurden zu "kriegswichtigen" Arbeiten heran gezogen. Vogelfedern nach Länge sortieren, wofür? Kartoffelschälen war ein Privileg. Man saß mit rund zwanzig Leuten zusammen und konnte reden. Aufsicht hatte ein polnischer Häftling. Weil zweisprachig, stand er im Verdacht, ein Spitzel der Obrigkeit zu sein. Ich hatte nichts zu verbergen. Die anderen flüsterten miteinander. Ausländer mussten deutsch sprechen. Von unserem Aufseher wurde als "Alfons" gesprochen. Ich dachte, es sei sein Name und sprach ihn damit an.
Überrascht war ich, als er böse reagierte. Man klärte mich auf. Was im deutschen ein "Lui" war, nämlich ein Zuhälter, war im polnischen "Alfons". Man lernt nie aus.
Ein Sonderauftrag war die Arbeit an der Kartoffelmiete. Eingeteilt wurden nur Leute von Alfons Gnaden. Man saß in der schon lange vermissten, ersten Frühlingssonne des Mais und entkeimte Kartoffeln. Keime, jahreszeitenbedingt, zehn Zentimeter und länger. Die Natur fordert ihr Recht. Zum schälen waren die Kartoffeln eigentlich schon viel zu schwammig. Abnehmer waren die Danziger Hotels. Wir waren immer hungrig, aber rohe Kartoffeln waren ungeniessbar. Wie kamen wir an Essbares? Täglich brachte ein Bäcker mit einem "Knacki" als Hilfe, eine Trage mit Brot an uns vorbei in den Vorratsraum. Der Duft von frischem Brot erhöhte unsere kriminelle Intelligenz. Der Weg des Brotes führte an einem Besenschrank vorbei. Er war nicht, wie alle anderen Türen im Gefängniss, verschlossen. Wir warteten, bis einer aus unserer Zelle hinten an der Trage war. Ich versteckte mich im Schrank und schnappte mir einen Laib Brot. Vor dem Bauch, unter der Jacke, schmuggelte ich die Beute in unsere Zelle. Drei Ausgehungerte machten sich darüber her. Zum Sattwerden reichte es nicht, aber für fürchterliche Bauchschmerzen. Wir saßen stöhnend und schwer atmend in den Ecken. Sägemehl ist schwer verdaulich.
So bin ich doch noch zum Dieb geworden, nur die Reihenfolge stimmte nicht: erst Knast, dann Dieb.

Das Urteil
Im tristen Gefängnishof, wo wir die Kartoffeln entkeimten, blühte ein weisser Flieder. Flieder gehörte schon immer und gehört heute noch zu meinem Geburtstag. Am 21. Mai 1943 fällte im ehrwürdigen Danziger Gerichtssaal, zwei Tage nach meinem Geburtstag, das Sondergericht das Urteil. Kein klarer Gedanke drang in mein Gehirn. Nur Bruchteile brannten sich unauslöschlich ein.
Der Saal war voller Zuhörer. Kommt gleich die Einteilung nach Schichauwerft?
Warum sprachen die soviel vom Mond?  Hatte der Mond geschienen? Wurde heimtückisch die Verdunklung ausgenutzt? Von Seifenstein war nicht die Rede. Sie wälzten Tabellen. Ob mit oder ohne Mond, der Strang wartete. Wie das Urteil genau ausfiel? Ich weiß es nicht. Die Blockade im Kopf war total. In einer Verhandlungspause, in einer Zelle, las ich einen Spruch, den ein Vorgänger in die Holzvertäfelung geritzt hatte :"Jehova wird die einst die Tränen von deinen Augen wischen." Ich wusste nicht, wer Jehova war. Ein Trost aber, dass es jemanden gab, der Tränen von den Augen wischte.

Eintrag ins Logbuch : Ende der Seereise 10. Februar 1943 

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